AK Solidarität Jetzt!   Fritz-Erler-Akademie   SPD-Ortsverein Tübingen

Tübinger Forum

Kommunitarismus auf dem Prüfstand
Sozialpolitik zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft

Ein Vortrag von

Dr. phil. habil. Walter Reese-Schäfer (Universität Halle)

am 25. Januar 1996 in der Universität Tübingen

Vorwort des Arbeitskreises Solidarität Jetzt!        Vorwort der Fritz-Erler-Akademie Freudenstadt

Inhalt:

1. Einführung

Trotz aller Diskussionen um Reduktion und Abbau des Sozialstaates (1) in der Bundesrepublik wird man sagen müssen, daß immer noch ein hinreichender Konsens besteht, zwar Umschichtungen und gelegentliche Beschränkungen von Ausgaben vorzunehmen, die Gesamtrichtung der Ausdehnung und Erhöhung der Finanzmittel aber beizubehalten. Ein Rückblick aus dem Jahre 2010 wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die derzeitigen Diskussionen und Begrenzungen, sondern vielmehr den Aufbau der Pflegeversicherung für den auch finanziell wichtigsten Schritt halten. Selbst beim Aufbau Ost dienen die Sozialstaatskassen eher als willkommene Möglichkeit, die Probleme kleinzurechnen und sie damit als politischen Streitgegenstand verschwinden zu lassen, sie zu "zerstäuben", wie es der Politikwissenschaftler Roland Czada formuliert hat.

Anders in den USA. Dort sind schon die Grundvoraussetzungen für den Sozialstaat umstritten, weil die Vorstellung von sozialen Anspruchsrechten eher neueren Datums ist und die Idee, daß Hilfe allenfalls vorübergehend, sozusagen als Hilfe zur Selbsthilfe gewährt werden sollte, immer noch eine erhebliche Rolle spielt. Jedenfalls wird man mit einer auf Selbsthilfe statt Staatshilfe zielenden Rhetorik dort sehr viel mehr Zustimmung finden können als in der Bundesrepublik oder gar in Frankreich.

Deshalb kann man im Vergleich mit den USA durchaus interessante Perspektiven gewinnen. Die politikwissenschaftliche Verbändeforschung hat seit Mitte der 70er Jahre in immer neuen Ansätzen und Studien zeigen können, daß im Vergleich zu den USA Deutschland, Österreich, die Schweiz sowie vor allem Japan eine stärker korporatistische Struktur aufweisen. Eine Vielzahl meist eng mit dem Staat kooperierender Wirtschafts-, Gewerkschafts-, Berufs- und Wohlfahrtsverbände und Kammern bildet netzwerkartige Verhandlungssysteme, in denen wichtige gesellschaftliche Aufgaben geregelt werden.

Nach der reinen Lehre des Wirtschaftsliberalismus hätte dadurch eigentlich das Wirtschaftswachstum gehemmt werden müssen, denn Verteilungskartelle verhindern den freien Fluß der Arbeitskräfte und des Kapitals in die produktiven Bereiche und halten sie in nutzloser Mühe bei den alten Industriesektoren wie Stahl und Kohle fest. Das deutsche und das japanische "Wirtschaftswunder" haben aber gezeigt, daß korporatistisch organisierte Volkswirtschaften durchaus Wachstumsvorteile vor liberalen Ökonomien erzielen konnten.

Inzwischen gibt es dafür eine Teilerklärung aus der Logik des kollektiven Handelns. Man kann nach Mancur Olson zwischen pluralistisch und korporatistisch organisierten Interessengruppen unterscheiden (Olson 1991). Pluralistische Interessengruppen mit freiwilliger Mitgliedschaft nehmen im freien Spiel der Kräfte partikulare Sonderinteressen auch auf Kosten des Gemeinwohls wahr, denn sie müssen ihren Mitgliedern einen direkten Vorteil aus der Mitgliedschaft bieten. Korporatistische Organisationsformen beruhen dagegen meist auf Formen von Zwangsmitgliedschaft und nehmen häufig Aufgaben wahr, deren Erledigung ihnen der Staat übertragen hat. Sie sind deshalb erheblich weniger gezwungen, das Mitgliederinteresse mit Sondervorteilen zu bedienen, und sie sind, was man etwa an den westdeutschen im Unterschied zu den englischen Gewerkschaften sehen kann, sehr viel stärker an gesamtwirtschaftlichen Zielen wie z.B. einer niedrigen Inflationsrate interessiert. Bei ihren Forderungen kalkulieren sie Aspekte ein, die man gemeinwohlorientiert nennen könnte und die, ob man dies nun werten will oder nicht, auf jeden Fall dazu angetan sind, ihrer Volkswirtschaft insgesamt einen Konkurrenzvorteil gegenüber liberaleren Wirtschaftssystemen zu verschaffen.

Gleichzeitig wird aber deutlich, daß derartige vermachtete Interessenwahrnehmungsformen unter dem Aspekt demokratischer Legitimation nur bedingt tragfähig sind. Sie sind der demokratischen Politik entzogen. Unter dem Aspekt der Gerechtigkeit gesehen handelt es sich bei ihnen durchweg um Absprachen auf Kosten Außenstehender. Diese Außenstehenden sind alle Gruppen oder Individuen, die nicht ausdrücklich mit an den entsprechenden Tischen, wo dies alles ausgehandelt wird, haben Platz nehmen können: Nichtorganisierte, Arbeitslose, Steuerzahler, Verbraucher etc.

Korporatistische Formen der Interessenwahrnehmung können auch nur solange Vorteile gegenüber liberalen Systemen bringen, als der Rahmen einer Volkswirtschaft eine bestimmte Größe nicht überschreitet. Die Effizienz korporatistischer Aushandlungsprozesse hängt nämlich entscheidend davon ab, daß die Zahl der beteiligten organisierten Gruppen relativ klein ist. Ein Übergang auf größere, europäische oder gar weltwirtschaftliche Einheiten, der zwangsläufig eine erhöhte Anzahl an Verhandlungsparteien mit sich bringt, kann den Differenzvorteil des Korporatismus gegenüber dem Pluralismus schnell zu einem Nachteil werden lassen und wenn schon nicht den demokratischen Prozeß, so doch den Markt wieder ins Spiel bringen. Der Rückgang der deutschen und japanischen Wachstumsraten hat die Grenzen dieses Modells auch längst schon gezeigt.

Der Korporatismus hat nun enorme Vorteile bei der Beseitigung der Armut und der Herstellung gesellschaftlicher Integration gebracht. Seine Grenzen zeigen sich heute, wo in immer mehr Sektoren eine direkte Konkurrenz mit billigeren Arbeitskräften aus dynamischen und jungen Volkswirtschaften stattfindet. Das hat zuerst die gar nicht oder schlecht Ausgebildeten, die Ungelernten und Angelernten getroffen, aber inzwischen gilt dies ebenso für Programmierer, Datenerfasser und selbstverständlich auch für die Intellektuellen. Es stellt sich die Frage, ob in einer hochgradig interdependenten Welt, in der vor allem im Bereich der Wirtschaft nationale Grenzen eine nurmehr geringe und weiter abnehmende Bedeutung haben, das korporatistische Modell Bestand haben kann.

Die Nachteile des Korporatismus liegen auch dort - und dies ist für die Sozialpolitik von zentraler Bedeutung - wo er die Bürger zu demoralisierten Abhängigen eines überkomplexen Wohlfahrtssystems machen, wo ihnen ihre Selbstständigkeit aus den Händen genommen wird, wo die Anspruchsrechte zum Teil aus wohlverstandener Fürsorge daran gekoppelt sind, eben kein Geld hinzuverdienen zu dürfen, und wo die Eigenaktivität gerade gebremst wird.

Unzweifelhaft stellt der Komplex der Sozialpolitik und der sozialen Sicherung eines der meistdiskutierten Themen unserer Zeit dar. Zu den zentralen Fragen, auf die im Verlauf der Debatte eine Antwort gefunden werden muß, gehören die folgenden:

Ich bin nun eingeladen worden, Ihnen hier einige Überlegungen darzustellen, die in den letzten Jahren zu diesen Problemen in der amerikanischen Sozialphilosophie und politischen Theorie unter dem Etikett des kommunitarischen Denkens entwickelt worden sind. Die Kommunitarier sind eine vielgestaltige, allenfalls lose gekoppelte Gruppe, zu der man Linksliberale, Sozialdemokraten des skandinavischen Typs und auch einige Konservative wie den Tugendtheoretiker Alasdair MacIntyre rechnen kann (2). Obgleich Probleme der Sozialpolitik von ihnen auffälligerweise meist nur am Rande und dann häufig unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip behandelt werden, scheint mir das kommunitarische Denken doch geeignet zu sein, der Debatte um Ausmaß und Ausgestaltung des Sozialstaates zu neuen und fruchtbaren Einsichten zu verhelfen.

2. Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit und Vergesellschaftung des Wohlfahrtsstaates

Was gerade für die Kommunitarier im Allgemeinen gesagt wurde, gilt auch für Michael Walzer im Besonderen: in den klassischen Fragen des Sozialstaates, wie Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung, also dem, was in den USA "social security" genannt wird, ist Walzer außerordentlich zurückhaltend. Ausführlicher behandelt er die Krankenversicherung und den Bereich der Sozialhilfe, die in den USA meist unter dem Begriff "welfare" diskutiert wird. Er verlangt allein, daß jede Person ein elementares Maß an Wohlfahrtsleistungen, an Schulbildung, an höheren Schulen und an polizeilicher Sicherheit garantiert werden muß. Das heißt, so ausfürlich sein vor allem in seinem Werk Sphären der Gerechtigkeit (Walzer 1992) dargelegtes Kompendium ist, der Wohlfahrtsbereich wird eher stiefmütterlich behandelt - mit einer Forderung nach Grundversorgung, wie sie auch von sehr sozialstaatsfeindlichen Liberalen akzeptiert werden könnte, und vor allem in engem Zusammenhang mit anderen klassischen Staatsaufgaben, nämlich Schulbildung und Polizei, die durchaus einen sozialen Aspekt haben, die wir aber gewöhnlich nicht in diesem Zusammenhang diskutieren (Walzer 1992: 157-161). Dennoch lassen sich Walzers allgemeine Aussagen auf den Bereich der Sozialpolitik übertragen. Dies werde ich im folgenden versuchen.

Simple und komplexe Gleichheit

Das Geheimnis des Politischen, wie Michael Walzer es konzipiert, ist die Auffassung der Gesellschaft als einer in Sphären getrennten Welt. Wenn in ihr Gerechtigkeit verwirklicht werden soll, kann dies nicht nach einem einheitlichen Schema geschehen, sondern so, daß die Güter, die in jeder einzelnen dieser Sphären zu verteilen sind, nach ihrer Beschaffenheit analysiert und bewertet und je nach ihrer Art auf ganz unterschiedliche Weise verteilt werden.

Simple Gleichheit, bei der die eine Person vierzehn Hüte bekommt, weil die andere vierzehn Hüte hat (Walzer 1992: 47, 83), ist zumindest in marktwirtschaftlich orientierten Systemen immer nur für kurze Momente aufrechtzuerhalten. Die ständigen Umwandlungsprozesse und der freie Tausch auf dem Markt werden mit Gewißheit schon nach kurzer Zeit zu Ungleichheiten führen. Will man dann - vielleicht in periodischen Abständen - die Gleichheit wiederherstellen, ist das nur durch Zwang, d.h. durch einen zentralisierten und aktivistischen Staat möglich (Walzer 1992: 41). Ein solches System stellte den Extremfall eines Sozialstaates dar, der jegliche Ungleichheit unter den Bürgern - und somit jegliches Risiko - durch eine allumfassende Versorgung jeder einzelnen Person ausschalten würde, aber gleichzeitig mit den Grundwerten der westlichen Liberaldemokratien unvereinbar wäre.

Walzer plädiert deshalb für komplexe Gleichheit. Sie soll ein Netz von Beziehungen erzeugen, "das Dominanz und Vorherrschaft verhindert. Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, daß die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Gutes nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Gutes" (Walzer 1992: 49).

Dies ist der zentrale Ausgangspunkt von Walzers Theorie der Gerechtigkeit. Kein sozialer Vorteil sollte an jemanden einfach aufgrund der Tatsache verteilt werden, daß er schon einen anderen Vorteil oder ein anderes Gut besitzt. Einem erfolgreichen Militär sollte nicht schon aufgrund dieser Tatsache auch politische Führungskompetenz zufallen, einem bedeutenden Romanschriftsteller sollte man nicht allein deshalb schon ein Urteil in Fragen der Ökonomie oder Außenpolitik zutrauen. "Im großen und ganzen werden die besten Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Soldaten und Liebhaber unterschiedliche Menschen sein; und solange die Güter, die sie besitzen, ihnen keine weiteren Güter eintragen, gibt es keinen Grund, ihre Fähigkeiten und Leistungen zu fürchten" (Walzer 1992: 50). Um es noch einmal pointiert zu formulieren: Walzer erteilt Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Sphären keineswegs eine Absage, solange diese sich nicht über verschiedene Bereiche hinweg fortsetzen.

Die Grenzen der Sphäre des Geldes

Ein wichtiger Bereich, an dem sich Walzers Methode der Grenzziehung sowie die gerade dargestellte Unterscheidung von simpler und komplexer Gleichheit darlegen lassen, ist das Geld, weil in einer gerechten Gesellschaft nicht alles käuflich sein darf. Anknüpfungspunkt von Walzers Überlegungen zu diesem Thema sind die militärischen Zwangseinberufungen, welche die Nordstaaten 1863 im amerikanischen Bürgerkrieg vornahmen. Es gab die Möglichkeit, sich gegen Zahlung von 300 Dollar einer Lotterie zu unterziehen, wobei ein - ärmerer - Ersatzmann gezogen werden konnte. Diese Regelung führte damals zu erheblicher Empörung und blutigen Unruhen, vor allem in New York, wurde aber durchgesetzt. Später, etwa im Vietnamkrieg, fand man weniger auffällige Methoden, um die Reichen vom Wehrdienst zu befreien, etwa durch die Rückstellung von Studenten. Offenbar entspricht es aber den weithin geteilten Auffassungen, daß es bei allgemeiner Wehrpflicht nicht richtig sei, nur arme Bürger zu zwingen, ihr Leben zu opfern. Grundsätzlich wird deshalb das Prinzip der Gleichbehandlung anerkannt, auch wenn es sich gezeigt hat, daß es teilweise diskrete Methoden zur Umgehung gibt.

Zur Konkretisierung des Gleichbehandlungsprinzips präsentiert Walzer eine Liste der Dinge, die nicht für Geld zu haben sein sollten. Es handelt sich hierbei um Grenzziehungen für den Einfluß des Geldes. Bestimmte Tauschgeschäfte müssen aus Gerechtigkeitserwägungen blockiert werden. Die Bill of Rights kann unter ökonomischen Gesichtspunkten sogar als Katalog bewußt blockierter Tauschgeschäfte interpretiert werden. (3) Neben grundlegenden, heute bei uns selbstverständlich erscheinenden - und dennoch nicht unbedingt erfüllten - Punkten wie dem Verbot des Kaufs und Verkaufs von Menschen, des politischen Einflusses und der politischen Macht etc. umfaßt Walzers Liste auch Punkte, die für die Sozialpolitik unmittelbar von Belang sind (Walzer 1992: 157-161):

Im Gegensatz zu Walzers im Ganzen umfassender Negativliste von Dingen, die dem Einfluß des Geldes nicht unterworfen sein sollten, umfaßt die positive, "ordnungsgemäße" Geldsphäre das gesamte Sortiment von Gütern, die rechtmäßig auf dem Markt sind. Ungleichverteilungen ergeben sich dann ganz selbstverständlich. Wenn die Blockierungsregeln aber richtig funktionieren, dann besitzt die Ungleichheit nur eine eingeschränkte Bedeutung, und es gibt dann eigentlich zumindest im Konsumgüterbereich keine Fehlverteilung. "Vom Standpunkt der komplexen Gleichheit aus betrachtet, tut es nämlich nichts zur Sache, daß Sie eine Yacht besitzen und ich nicht, oder daß das Klangsystem meiner Hi-Fi-Anlage dem der Ihren erheblich überlegen ist, oder daß wir unsere Teppiche im Kaufhaus kaufen und Sie die Ihren im Orient. Die einen werden auf solche Dinge genauestens achten, die anderen nicht. Das ist eine Frage der Kultur und nicht der distributiven Gerechtigkeit. Solange Yachten und Hi-Fi-Anlagen und Teppiche nur einen Gebrauchswert plus einem individualistischen Symbolwert besitzen, macht ihre ungleiche Verteilung nichts aus" (Walzer 1992: 167).

Walzer wendet sich in diesem Punkt entschieden gegen Vorstellungen etwa des französischen Ökosozialisten André Gorz, der glaubt, man solle kollektive Fernseher, Waschmaschinen und Transportmittel bevorzugen, auf jeden Fall Fragen der Güterdistribution von den "vereinigten Produzenten" diskutieren und beantworten lassen. (5) Es ist gerade eine Entlastung der Gemeinschaft, wenn sie sich mit all diesen Fragen nicht befassen muß, wenn auch individuelle Wünsche zum Zuge kommen können, die in öffentlichen Gremien niemals Zustimmung finden würden. Er meint, "daß es der Demokratie keineswegs zuträglich wäre, wenn die Frage, welchen Waschmaschinen und Fernsehgeräten der Vorzug zu geben sei, im Parlament erörtert werden müßte. Wo sollte eine solche Diskussion ihr Ende finden? Gorz ist voller solcher Fragen wie: 'Was ist besser? Vier Paar kurzlebige Schuhe pro Person und Jahr oder ein Paar solide plus zwei Paar kurzlebige?'" (Walzer 1992: 175). In Marktgesellschaften regeln sich solche Dinge wirklich von selbst und meist auch ohne Nachdenken.

Zustimmend behandelt Walzer die Forderung von Gorz nach einem Forum, auf dem all das diskutiert werden kann. Das gilt besonders für wichtige und die Allgemeinheit betreffende Güter, denn der Markt bietet ein solches Forum ja gerade nicht. Ein Beispiel wäre das Auto, "das wohl bedeutsamste aller modernen Güter" (Walzer 1992: 174-177). Auch wenn Gorz als Altsozialist den Aspekt individueller Befreiung, den der Autoverkehr ermöglicht, überhaupt nicht wahrnimmt, so hat er doch recht, daß es die gesamte städtische Struktur verändert hat, Bemühungen zugunsten von öffentlichen Verkehrssystemen durch seine überlegene Konkurrenz gefährdet und nachbarschaftliche Lebenswelten zerstört. Walzer sieht zwar, daß demokratische Öffentlichkeiten auch bei Kenntnis aller Nachteile heute noch durchweg für das Auto votieren würden, aber es ist klar, daß die Frage der Subventionen für öffentliche Verkehrsmittel oder der Kosten des Straßenbaus eine politische und politisch zu entscheidende, keine reine Frage des Marktes ist (Walzer 1992: 177). Hier ist die Intervention der Politik in das freie Spiel der Marktkräfte durchaus erlaubt und erwünscht.

Als langjähriger und intensiver Beobachter aller Spielarten der Linken weiß Walzer aber auch, daß im Zweifel eine Despotie des Geldes "weniger furchterregend [ist] als diejenigen Despotismen, die ihren Ursprung auf der anderen Seite der Geld-/Politikgrenze haben. Die Plutokratie ist ganz gewiß weniger angsteinflößend als der Totalitarismus, der Widerstand gegen sie weniger gefährlich. Der wichtigste Grund für den Unterschied liegt darin, daß man Macht und Einfluß - genau wie Ämter, Bildung, Ansehen usw. - kaufen kann, ohne die verschiedenen Distributionssphären radikal gleichschalten und alternative Prozesse und Akteure ausschalten zu müssen. Geld korrumpiert zwar die Verteilungsmuster, es transformiert sie aber nicht [...]". All das bleibt für Walzer abzulehnen, auf der Gegenseite aber würde ein "Feldzug gegen die Geldherrschaft, der den Wirkungs- und Geltungsbereich sozialer Güter und sozialer Sinngehalte nicht zu respektieren gewillt ist, [...] sehr schnell in eine Tyrannei einmünden" (Walzer 1992: 446f).

Daraus folgt, daß jeder politische Aktivismus schon bei der Entwicklung der eigenen Programmatik unbedingt die unterschiedlichen Sphären der Gerechtigkeit bedenken und respektieren muß, weil er andernfalls tendenziell totalitäre Züge in seinen Kampf einbauen würde. Er könnte nicht einmal überzeugend darauf verweisen, daß die andere Seite ebenso despotisch sei, denn hier herrscht offensichtlich eine Asymmetrie, weil es nur für wenige ein attraktives politisches Ziel sein kann, lediglich die eine Despotie durch die andere auszutauschen. Politische Bewegungen, vor denen man sich nicht zu fürchten braucht, respektieren die freiheitsverbürgenden Grenzziehungen zwischen den Lebenswelten (Walzer 1992: 449).

Auf den Bereich der Sozialpolitik übertragen stecken diese allgemeinen Ausführungen offensichtlich eine Grenze für das maximale Aktivitätsniveau des Sozialstaates ab. Innerhalb der Sphäre des Geldes herrschen Marktbeziehungen, die zwangsläufig zu Ungleichheiten führen. Diese stellen jedoch zunächst einmal keinen Anlaß für sozialpolitisch motivierte staatliche Eingriffe dar. Im Gegenteil: greift der Sozialstaat in die Sphäre des Geldes ein, indem er z.B. versucht, Ungleichheiten zu verringern, so verursacht dies - neben Effizienzverlusten durch Störungen der marktgesteuerten Allokation - eine potentielle Gefärdung der Demokratie. Hinzufügen könnte man, daß durch ein Übermaß an staatlicher Aktivität oder Reglementation in der Sphäre des Geldes die Eigenaktivität der Individuen geschwächt würde. Dies ist aber gerade eine der eingangs genannten Schwächen der gegenwärtigen Sozialpolitik.

Sozialpolitik setzt sinnvollerweise erst jenseits der Sphäre des Geldes ein, welche ja ihrerseits begrenzt ist durch Walzers Negativliste von Dingen, die für Geld nicht erwerblich sein sollen. Konkret heißt das: sobald durch die Marktbeziehungen in der Sphäre des Geldes "verzweifelte Tauschaktionen" aufgrund wirtschaftlicher Not induziert werden oder das Minimum an elementaren Wohlfahrtsleistungen unterschritten wird, sollte die soziale Sicherung eingreifen. An dieser Stelle wird ganz deutlich, von welch essentieller Bedeutung die Konkretisierung solcher von Walzer bewußt vage formulierten Eingriffsschwellen der Sozialpolitik ist. Ich will daher im folgenden kurz Walzers Gedanken zu diesem Thema diskutieren.

Die Lösung der Verteilungsfrage

Wie die Trennungslinien zwischen den einzelnen Sphären zu ziehen sind und welche Art von Verteilung in jedem einzelnen Bereich als gerecht empfunden wird, hängt von den geteilten Überzeugungen einer politischen Gemeinschaft ab. Walzer glaubt nicht an so etwas wie einen Nationalcharakter als festgelegten und dauerhaften geistigen Rahmen, hält aber geteilte Empfindungen und Intuitionen unter den Mitgliedern einer historisch gewachsenen Gemeinschaft für eine Lebenstatsache (Walzer 1992: 61). Nur auf dem Wege der Interpretation und durch den Appell an gemeinsame Bedeutungen können angemessene Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden.

Die Verteilungsfrage im Wohlfahrtsstaat soll nach den in einer Gesellschaft üblichen und allgemein akzeptierten Kriterien geregelt werden. Der Gesellschaftsvertrag ist für Walzer "eine Übereinkunft, die Mittel der Mitglieder umzuverteilen gemäß einem gemeinsamen, im Detail der ständigen politischen Neubestimmung unterworfenen Verständnis von deren Bedürfnissen". Es handelt sich um ein "moralisches Band" (Walzer 1992: 133). Die Rede von gesellschaftlich anerkannten Bedürfnissen läßt die konkrete Ausfüllung offen. Was anerkannt wird, muß sich aus der demokratischen Diskussion ergeben. Grundsätzlich gibt es keine vorgegebenen Begrenzungslinien für diese Diskussion. Die Fragen, die Walzer hierzu formuliert, sind erstens die Frage, welches Ausmaß der Versorgung in einer Gesellschaft wie der amerikanischen angemessen ist und zweitens die Frage, wieviel die Bürger einander schuldig sind - aufgrund der Tatsache, daß sie in "einer modernen industriellen Demokratie einander sehr viel zu verdanken haben" (Walzer 1992: 134). Auf dieser Grundlage entwickelt Walzer drei allgemeine Prinzipien:

In den USA müßten Anspruch und Geltungskraft dieser Prinzipien seiner Ansicht nach besonders hoch anzusetzen sein, weil hier sowohl der gesellschaftliche Wohlstand als auch das Verständnis individueller Bedürfnisse besonders hoch entwickelt sind. Tatsächlich jedoch existiert dort eines der "schäbigeren" Systeme der Gemeinschaftsversorgung.(6)

An dieser Gegenüberstellung zeigt sich Walzers kritische Methode der Interpretation. Die amerikanische Gesellschaft ist lose organisiert, die Ideologie der Selbstverantwortung ist allgemein akzeptiert, Bewegungen der Linken sind schwach. "Die demokratischen Entscheidungsprozesse spiegeln diese Realitäten wider, und prinzipiell ist daran auch nichts auszusetzen. Und dennoch, das Versorgungssystem, wie es sich etabliert hat, vermag den im Bereich von Sicherheit und Wohlfahrt herrschenden Anforderungen nicht nachzukommen, und die gemeinsamen Vorstellungen der Bürger weisen in Richtung eines entwickelteren, reichhaltigeren Systems" (Walzer 1992: 135).

Walzers Denken enthält also keine flammende prophetische Bußpredigt gegen die Ungerechtigkeit des herrschenden Wohlfahrtssystems, thematisiert aber Unzulänglichkeiten und innere Brüche des Systems, die in der öffentlichen Diskussion schon eine Rolle spielen. Walzers "und dennoch" ist kein Bruch in seiner eigenen Argumentation, sondern ein Bruch im öffentlichen Diskurs, an den er anknüpfen und von dem ausgehend er seine Veränderungsvorschläge entwickeln kann.

Um es etwas konkreter zu fassen: Im Prinzip müßte jede demokratisch zustande gekommene Entscheidung, also auch das amerikanische Medizinsystem mit seiner "Minimalversorgung für jedermann auf der Basis von städtischen Kliniken; und darüber hinaus freies Unternehmertum" (Walzer 1992: 143) als gerecht gelten können. "Ein solches Konzept erschiene mir persönlich zwar als höchst unzureichend, es implizierte aber nicht notwendig eine ungerechte Entscheidung. Indes, dies ist nicht die Entscheidung, die das amerikanische Volk getroffen hat. Die allgemeine Einsicht in die Bedeutung der medizinischen Versorgung hat Amerika zu weit darüber hinausgehenden Initiativen veranlaßt. De facto ist es heute so, daß Bund, Länder und Gemeinden ein medizinisches Versorgungsprogramm subventionieren, das verschiedene Ebenen der Betreuung für verschiedene Klassen von Bürgern vorsieht" (Walzer 1992: 143).

Und hier, an diesem Punkt, setzt Walzers Kritik ein: Es werden öffentliche Gelder zur Forschungsfinanzierung, für Arzthonorare und für den Krankenhausbau eingesetzt, die den Armen, Mittelschichten und Reichen in unterschiedlichen Maße zugute kommen. Seinen Prinzipien gemäß ist Walzer für eine Verteilung der öffentlich bereitgestellten Güter allein nach den sozial anerkannten Bedürfnissen (Walzer 1992: 144f). Hier hat sich seiner Meinung nach der Institutionenrahmen nicht hinreichend mit dem Wandel der öffentlichen Wertvorstellungen über medizinische Versorgung verändert. Deshalb muß hier weitere demokratische Diskussion stattfinden, innerhalb derer der Philosoph die Aufgabe wahrnehmen kann, die Grundstruktur der Argumentation - also das, was er für den Sinn des Gesellschaftsvertrags hält - und die daraus sich ergebenden Folgerungen darzulegen.

Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft

Die allererste Frage, über die eine Gemeinschaft sich im Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit Gedanken machen muß, ist: Wer ist Mitglied der Gruppe, innerhalb derer verteilt werden soll, und wer nicht? Wie also wird die politische Gemeinschaft konstituiert? Die Mitgliedschaft ist das erste und grundlegende Gut, das zur Verteilung ansteht. Hannah Arendt hat eindrucksvoll das Schicksal der Staatenlosen, der displaced persons in unserem Jahrhundert beschrieben, die als Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgestoßene und Verfolgte nirgendwo garantierte Rechte besaßen (Arendt 1986). Die Frage der Mitgliedschaft ist wichtig, denn freie und reiche Gesellschaften werden von Bewerbern umlagert. Erstere haben zu entscheiden: "Wen sollen wir aufnehmen? Sollen wir offenen Zugang für jeden haben? Können wir unter den Bewerbern auswählen? Was sind die angemessenen Kriterien für die Vergabe der Mitgliedschaft?" (Walzer 1992: 66)

Es zeichnet Walzer als politischen Theoretiker aus, daß er diese Fragen um so vieles präziser formuliert, als das im deutschen Diskurs üblich ist. Entscheidend ist aber seine Methode, die Abgrenzung der Mitgliedschaft in politischen Gemeinschaften zu analysieren. Er macht dies durch Analogien zu der Art und Weise, wie Nachbarschaften, Vereine und Familien das Problem der Aufnahme von Mitgliedern handhaben. Aus der spezifischen Differenz zu diesen entwickelt er die Eigentümlichkeit der politischen Vereinigung. In eine Nachbarschaft kann, formal gesehen, jeder einziehen. Vereine haben normalerweise besondere Aufnahmeausschüsse und suchen sich ihre Mitglieder nach ihrem gemeinsamen Ziel oder ihrer Exklusivität aus. Die Mitglieder werden von denen aufgenommen oder abgewiesen, die schon drin sind. Ein Charakteristikum von Familien ist es, "daß ihre Mitglieder sich moralisch mit Menschen verbunden fühlen, die sie sich nicht ausgesucht haben und die außerhalb des eigenen Haushalts leben" (Walzer 1992: 78).

Staaten als vorherrschende Form der politischen Vereinigung liegen in dieser Betrachtungsweise ungefähr zwischen Vereinen und Familien. Gegenüber Fremden gibt es eine Verpflichtung zur Aufnahme dann, wenn diese auf der Flucht sind. Der Forderung des Flüchtlings: "Nehmt mich auf, sonst werde ich von denen, die in meinem eigenen Land herrschen, getötet, verfolgt oder brutal unterdrückt" (Walzer 1992: 88f) läßt sich kaum etwas entgegensetzen. Walzer verweist aber darauf, daß es sich um Rechte von Einzelpersonen handelt. Kommen die Flüchtlinge in Millionen, gibt es Grenzen für die kollektive Pflicht zur Aufnahme. Walzer erklärt ausdrücklich, daß er sich nicht in der Lage sieht, diese Grenzen näher zu bezeichnen (Walzer 1992: 91), zumal es Fälle gibt, in denen nur Gewaltanwendung gegen hilflose und verzweifelte Menschen diese daran hindern könnte, in das Land zu kommen. Dennoch besteht er darauf, daß gemeinsame Selbstbestimmung immer auch das Recht enthalten muß, einem solchen Zustrom Einhalt zu gebieten. Die Selbstbestimmung in diesem Bereich ist kein absolutes Recht, es unterliegt dem Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung auch unter Fremden (das ja auch im persönlichen Leben nicht bedeutet, daß man jemanden, den man hilflos auf der Straße findet, in seine Wohnung aufnehmen muß). Aber: "Zulassung und Ausschluß sind der Kern, das Herzstück von gemeinschaftlicher Eigenständigkeit. [...] Ohne sie gäbe es keine Gemeinschaften des Charakters, keine historisch stabilen, weitergehenden Assoziationen von Männern und Frauen, die sich einander besonders verpflichtet fühlen und die einen besonderen Sinn für ihr gemeinsames Leben haben."(7)

Da Sozialpolitik hauptsächlich auf staatlicher Ebene durchgeführt wird, ist die Frage der Aufnahme von Fremden auch in diesem Bereich von hoher Bedeutung. Zwar gibt es in der Praxis große Unterschiede zwischen den sozialen Leistungen, die beispielsweise ein Asylbewerber oder ein zuvor langjährig in Deutschland beschäftigter Arbeitsloser erhält. Dennoch zieht die Aufnahme in die politische Gemeinschaft aus Gerechtigkeitsgründen die Verpflichtung nach sich, den Aufgenommenen entsprechend den in der Gemeinschaft gültigen Grundsätzen zu behandeln, ihm also die vereinbarten Mindeststandards an sozialer Sicherheit zu garantieren.

Die Träger der Sozialpolitik

Standen bislang Überlegungen zum Umfang von Sozialpolitik im Vordergrund, so will ich nun auf Walzers Ausführungen zur möglichen Ausgestaltung sozialer Sicherung eingehen und dabei mit dem klassischen Träger der Sozialpolitik, dem Staat, beginnen.

Walzers Position zum Staat läßt sich am Thema des Wohlfahrtsstaates, also der welfare, gut aufzeigen, weil er hier besonders deutlich zwischen der Beschreibung des status quo und seinen Verbesserungsvorschlägen differenziert. Er schlägt vor, den modernen Wohlfahrtsstaat als System verstaatlichter Verteilung zu betrachten. Bestimmte Schlüsselgüter sind der privaten Kontrolle ganz oder teilweise entzogen und werden nach rechtlich definierten Bedürfniskriterien an alle oder bestimmte Teilgruppen von Bürgern verteilt, und zwar mit öffentlichen Geldern und von staatlichen Funktionären. Die verstaatlichte Distribution ist nichts absolut Neues - sie hat schon begonnen mit der Nationalisierung von innerer und äußerer Sicherheit durch Polizei und Militär, aber sie hat heute doch eine neue Dimension angenommen.

Der Vergleich mit dem Modell verstaatlichter Produktion drängt sich geradezu auf. Der sozialistische Staat hat die Produktion verstaatlicht, der Wohlfahrtsstaat die Distribution. Das Thema der nationalisierten Distribution spielt in der klassischen marxistischen Theorie nur eine geringe Rolle, weil in ihr die Konsumtion nur als abgeleiteter Bereich betrachtet wurde. Dennoch ist die Distribution nach Walzer das einzige Feld, auf dem sozialistische Vorstellungen immerhin einen gewissen Organisationserfolg erzielen konnten, nachdem sich die Verstaatlichung der Produktion als die bekannte Enttäuschung erwiesen hatte.(8)

Die Enttäuschungen der verstaatlichten Verteilung sind geringer, aber immer noch fühlbar: Es sind die bekannten Nachteile zentralisierter Kontrolle, bürokratischer Organisation und einheitlicher Regelungen. Walzer stellt sich aus diesem Grund analog zur demokratisch-sozialistischen Konzeption der Vergesellschaftung statt Verstaatlichung der Produktion eine Vergesellschaftung des Wohlfahrtsstaates vor (Walzer 1988). Er versteht hierunter die Übertragung sozialpolitischer Aufgaben vom Staat auf die Zivilgesellschaft. Diese ist vor allem deshalb dafür prädestiniert, verstärkt in die soziale Sicherung einbezogen zu werden, weil sie eine Zwischenstellung zwischen Staat und Privatsektor einnimmt. "Sie teilt mit dem Staat den Öffentlichkeitscharakter und die Ausrichtung auf das Gemeinwohl, aber im Gegensatz zum Staat beansprucht sie nicht, das Gewaltmonopol auszuüben. Stattdessen bildet sie einen freiwilligen und in diesem Sinne 'privaten' Bereich, der sich dem Gemeinwohl widmet" (Barber 1994: 5f).

Walzer beschreibt die Aktivität der Zivilgesellschaft etwas weniger abstrakt und nennt dabei auch gleich ein wesentliches Problem, nämlich ihren geringen Organisationsgrad und somit ihre schwache Position gegenüber dem Staat: "in den vernetzten Vereinigungen der zivilen Gesellschaft, in Gewerkschaften, Parteien, Bewegungen, Interessengruppen und so fort treffen dieselben Leute viele kleine Entscheidungen und gestalten bis zu einem gewissen Grad die weiter weg liegenden Beschlüsse in Staat und Wirtschaft. In einer dichter organisierten, egalitäreren Zivilgesellschaft könnten sie diese beiden Dinge noch wirkungsvoller tun" (Walzer 1992a: 81f). Das heißt, die Vergesellschaftung der Distribution erfordert in erster Linie "genauso wie die Vergesellschaftung der Produktion, Wege zu finden, wie die Stärken der Zivilgesellschaft genutzt und ausgebaut werden, anstelle vom wachsenden Aktivismus des Staates überwältigt zu werden" (Walzer 1988: 17).

Doch die Vergesellschaftung des Wohlfahrtsstaates steht noch weiteren gewichtigen Problemen gegenüber. Zum Beispiel ist zu entscheiden, welche Teile der Zivilgesellschaft besonders gestärkt werden sollten. Macht für die Verteiler oder Macht für die Empfänger der Wohlfahrtszahlungen? Beide scheinen keine überzeugenden Kandidaten für die Zuteilung von mehr Kompetenzen zu sein. Allenfalls wäre es sinnvoll, beide Gruppen sehr viel breiter zu definieren und dementsprechend dafür zu sorgen, daß mehr Bürger amtlich oder ehrenamtlich beteiligt wären und daß auch einfache Bürger an den Ausgabestellen ein Mitspracherecht hätten.

Walzer setzt in seinem Aufsatz über die Vergesellschaftung des Wohlfahrtsstaates auf ein staatlich garantiertes Wohlfahrtsminimum, gekoppelt mit örtlichen Hilfeleistungen (Walzer 1988: 18). Vergleichbar wäre der derzeitige Aufbau des US-amerikanischen Erziehungssektors, der ebenfalls sowohl verstaatlicht als auch vergesellschaftet ist - vergesellschaftet insofern, als in den USA örtliche gewählte Schulkomitees einen ernstzunehmenden Einfluß auf die Schulverwaltung haben. Von staatlicher Seite wäre Effizienz und Allgemeinheit (allgemeine Gleichverteilung) zu garantieren, während die örtlichen Mitverwaltungsinstanzen für die lokale Anbindung und Bürgernähe sorgen.

Eine Folge dieser Konzeption ist, daß vergesellschaftete Distribution notwendigerweise an verschiedenen Plätzen verschieden, das heißt ungleich sein muß (Walzer 1988: 19). Diesem Nachteil steht der Vorteil gegenüber, daß örtliche Eigenaktivitäten gefördert werden, während es üblicherweise die Tendenz staatlichen Handelns ist, freiwilliges Handeln eher beiseitezudrängen, auch wenn das nicht die Absicht der Befürworter des Wohlfahrtsstaates war, sondern nur eine jener bekannten Nebenwirkungen, die die Hauptabsicht überlagern und zunichte machen können. Walzers Kerngedanke ist klar: Es kommt darauf an, Mittel und Wege zu finden, um Freiwillige in die Aktivitäten der sozialen Sicherung einzubeziehen. Der die Grundbedürfnisse garantierende Wohlfahrtsstaat soll so eine gewisse Balance in einer Art von Wohlfahrtsgesellschaft finden.

Der von der Sehnsucht nach der Zivilgesellschaft getragene Gedanke einer staatlich eingeleiteten zumindest partiellen Substitution des Wohlfahrtsstaates hat mich, das will ich an dieser Stelle kurz einflechten, nicht ganz überzeugen können, weil ich denke, daß Überzeugungskraft doch eigentlich immer von solchen Formen der Selbsthilfe ausgeht, die mit großen Anstrengungen in Gang gesetzt werden und meist aus der Not geboren sind.

Ich will aber in der Darstellung fortfahren: Wichtig für Walzer ist erstens die Erhöhung der Zahl der an der Verteilung beteiligten Menschen, also sowohl der möglichen Wohlfahrtsempfänger, die selbst in die Verteilung einbezogen werden, als auch der ehrenamtlichen oder teilweise vom Staat bezahlten Helfer. Eine Verteilungsbürokratie, die schon aus Gründen der Selbsterhaltung an der Aufrechterhaltung sozialer Not interessiert wäre, soll dagegen vermieden werden. Für Hauptamtliche ist also in diesem Denken keine wichtige Rolle vorgesehen.

Zweitens kommt es darauf an, die Wohlfahrtsprogramme nicht nur für die Armen, sondern auch mit ihnen zusammen zu planen und zu entwickeln - eine theoretisch einfach zu formulierende Sache, die aber auf erhebliche Widerstände stößt. Walzer betont dabei immer wieder, daß der Staat jederzeit stark genug sein muß, um diese Tätigkeit von Bürgern und Freiwilligen zu finanzieren und darüber auch die Oberaufsicht zu behalten (Walzer 1988: 26, 1992: 146).

Diese Überlegungen sind aufgrund ihrer bürokratiekritischen Tendenz attraktiv. Man kann jedoch einwenden, ihnen fehle die europäische, vor allem französische und deutsche Erfahrung einer effizienten und einigermaßen funktionierenden Verwaltungsbürokratie, die in der Lage ist, die nötige Verteilung der Wohlfahrtsleistungen kostengünstig, gleichmäßig über das Staatsgebiet verteilt und mit einem relativ niedrigen Grad an Korruption vorzunehmen. Je mehr Bürger an der Basis selbst beteiligt und persönlich involviert sind, desto personenorientierter und dadurch auch klientelismusanfälliger werde das System und sei damit in Gefahr, an Effizienz zu verlieren (vgl. Ewald 1993; Hondrich/Koch-Arzberger 1992; Sachße/Engelhardt 1990). Walzer nennt diese Dinge zwar beim Namen, meint aber, daß auch dort, wo komplexe Gleichheit angestrebt wird, durchaus persönliche Wohltätigkeit und die daraus resultierenden karitativen Abhängigkeiten ihren Platz haben sollten.

Damit kann Walzer den Kernpunkt der Kritik jedoch nicht entkräften. Die Vorstellung größtmöglicher Partizipation kann einerseits gerade in ghettoartigen Problemzonen, in die der staatliche Arm nicht mehr ganz reicht, problematische Ungleichverteilungen entsprechend den lokalen Machtstrukturen schaffen, und sie wird andererseits, wie schon im Schulsystem, auf jeden Fall dazu führen, daß die reicheren Viertel die aktiveren Eltern, die besser bezahlten Lehrer und deshalb auch die besseren Schulen haben.

Je stärker die lokale Finanzierung von Wohlfahrtszahlungen ist, desto stärker wird die Ungleichheit sich entwickeln. Partizipation und distributive Gerechtigkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Walzer thematisiert dieses Problem nicht. Amitai Etzioni, der in diesen Dingen praxisnäher argumentiert, hat dazu vorgeschlagen, dem Staat nur eine subsidiäre Rolle bei der Finanzierung zu übertragen: im Zentrum steht nach dieser Idee die lokale Verteilung von lokalen Geldern. Ergänzende staatliche Zuzahlungen und technische Hilfestellungen sollen lediglich eine annähernde landesweite Gleichverteilung gewährleisten (Etzioni 1993: 260).

Die Tendenz jedenfalls ist deutlich: nicht die Aufbringung der Mittel oder ihre möglichst gerechte oder gleiche Verteilung ist das Hauptinteresse der Kommunitarier, sondern die partizipativen Verfahrensweisen der Distribution. Das ist gewiß ein Reflex auf ein besonderes Maß an antibürokratischem Mißtrauen in den USA, das trotz aller Bürokratiekritik in Europa hier nicht in diesem Ausmaß zu den Selbstverständlichkeiten politischen Denkens gehört. Walzer führt an diesem Punkt seinen Trennungsgedanken nicht konsequent genug durch, denn die Vorstellung einer uneigennützigen bürokratischen Verwaltung nach kontinentaleuropäischem Modell mit dem dazugehörigen Amtsethos müßte für einen Theoretiker der Trennungen doch durchaus attraktiv sein können.

Für die deutschen Verhältnisse könnte man übrigens in Weiterführung von Walzers Trennungsgedanken hinzufügen, daß ein Amtsethos der Bürokratie dann recht wenig nützt, wenn von politischer Seite her der Griff in die Kassen jederzeit zu politischen Zwecken möglich ist, wenn also beispielsweise die deutsche Wiedervereinigung und die Kaschierung der Arbeitslosigkeit durch Frühverrentung über die beitragsfinanzierten Kassen der Rentenversicherung bezahlt werden. Wenn man die Trennungstheorie hier weiter verfolgt, kommt man zu ordnungspolitischen Überlegungen, die Walzer aber lediglich für den Bereich des ihn besonders interessierenden Staates skizziert hat. Im Hintergrund steht bei ihm nämlich letztlich immer die Betonung eines hinreichend starken ausgleichenden und notwendigerweise auch kontrollierenden Staates. Unter ideologiepolitischen Gesichtspunkten hat es für ihn einen wichtigen Stellenwert, sich ganz ausdrücklich gegen Michel Foucaults Gedanken einer "Disziplinargesellschaft" zu wenden, die seiner Meinung nach ausschließlich in autoritären Staaten entsteht, sich aber nicht aus den Schul- und Wohlfahrtsbürokratien der westlichen Gesellschaften ergibt (Walzer 1992a: 63; vgl. Foucault 1977: 251-292).

Eine ergänzende Bemerkung möchte ich zu diesem Abschnitt noch anfügen. Ich hatte eben dargelegt, daß Walzer als Alternative zur staatlichen Sozialpolitik die Vergesellschaftung des Sozialstaates vorschlägt. Nun ließe sich einwenden, daß prinzipiell auch der Weg einer Privatisierung der sozialen Sicherung eine denkbare - und in einigen Ländern, wie etwa ganz deutlich in Chile und zum Teil in den USA, auch realisierte - Alternative zum Wohlfahrtsstaat darstellt. Diesem Argument ist jedoch aus Walzers Perspektive zu widersprechen. Wesentliches Kriterium für sozialpolitisches Engagement des Staates ist ja gerade, daß die Sphäre des Geldes und folglich der Marktbeziehungen an ihre Grenze stoßen. Andererseits führt aber jegliche Form von Privatisierung des Sozialstaates zwangsläufig zur Herausbildung von Marktbeziehungen in der sozialen Sicherung. Es entstünde so die paradoxe und wenig wünschbare Situation, daß die Aufgaben der Sozialpolitik dem Markt überlassen werden, obwohl es gerade der Markt ist, der die Notwendigkeit von Sozialpolitik bedingt.

Sozialpolitik jenseits des Nationalstaates?

Walzers Gedanke des ausgleichend im Hintergrund agierenden Nationalstaates ist sehr konsequent gedacht, denn er ist offenbar die letzte Vermittlungsinstanz in allen distributiven Fragen. Ein international funktionierender Sozialstaat ist nur schwer vorstellbar - allenfalls aufgrund ungefähr gleich entwickelter Vorstellungen von Distribution, die jedoch heute schon in Europa etwa zwischen den skandinavischen Staaten einerseits und dem gegenwärtigen Großbritannien andererseits weit auseinanderklaffen. Nicht einmal der ungefähr gleiche wirtschaftliche Standard ist hier eine hinreichend grundlegende Größe, denn es muß die Bereitschaft hinzukommen, auch die Einkommen den Umverteilungsvorstellungen entsprechend zu besteuern.

Ist Walzers Theorie damit letztlich auf die Zeiten des Nationalstaates begrenzt? Ist sie möglicherweise wirklich eine Romantisierung des Nationalstaates (vgl. Luban 1985)? Wird sie obsolet werden im Zuge einer sich verstärkenden Multinationalisierung der politischen Organisationsformen, im Zuge einer wirtschaftlich und politisch vermittelten Auflösung und Entmachtung der Nationalstaaten?

Walzer selbst hat diesen Punkt nicht weiter reflektiert, weil er sich an der gegenwärtigen prekären Balance zwischen Nationalstaat, Bereichstrennungen und Umverteilung orientiert. Versucht man über diesen status quo hinauszudenken, ergibt sich, daß die konsequente Bereichstrennung gerade und erst recht in Kraft treten müßte, wenn die nationalen Trennungen zunehmend bedeutungslos werden. Gerade für eine postnationale Konzeption der Weltgesellschaft käme sehr viel darauf an, zumindest kulturelle und auch soziale Bereiche so zu bestimmen, daß ihnen nicht die Angleichung an das jeweils niedrigste Niveau droht. Je höher die Zäune zwischen den Bereichen, desto mehr Vielfalt kann erhalten werden. Offen bleibt allerdings die Frage, wer, wenn nicht der mit den entsprechenden Machtmitteln ausgestattete Nationalstaat für die Einhaltung solcher Trennungslinien wird sorgen können, und wer, gleichgültig, welches System der sozialen Sicherung - und hierbei vor allem der Altersversorgung - gewählt wird, dafür im Krisenfalle zu garantieren hätte. Schon hier zeigt sich, daß Walzers gesamtes Trennungsdenken auf den Nationalstaat angewiesen bleibt und ohne ihn letztlich nicht zu denken ist.

3. Amitai Etzioni: Familie, Nachbarschaft, Subsidiarität

Einen etwas anderen Schwerpunkt als Walzer setzt Amitai Etzioni bei seinen Betrachtungen zur sozialen Gerechtigkeit. Ihm geht es weniger darum, die Zivilgesellschaft als neuen wesentlichen Akteur der sozialen Sicherung anstelle von Staat und marktwirtschaftlichen Akteuren ins Spiel zu bringen. Vielmehr interessieren ihn das Verhältnis verschiedener gesellschaftlicher Akteure zueinander und nicht zuletzt die Motivation für gemeinschaftliches Handeln. Hingegen sind Etzionis Aussagen bezüglich des angemessenen Umfangs von sozialen Rechten bzw. Sozialpolitik ähnlich offen formuliert wie die von Walzer: ein angemessenes Niveau sozialer Rechte resultiert danach aus einer Abwägung zwischen den beiden Polen der Einforderung individueller Rechte und der Übernahme sozialer Verantwortung.

Individuelle Rechte und soziale Verantwortung

Amitai Etzioni sucht einen nichtpuritanischen und nichtrepressiven Weg, dem Gemeinschaftsdenken eine neue gesellschaftliche und politische Funktion zu geben und mißt dabei Moral und Tugenden eine wesentliche Bedeutung zu. Seine Vorschläge für eine Remoralisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge sind aus der spezifischen Situation in den USA der frühen neunziger Jahre entwickelt, in denen seiner Einschätzung nach der Sinn für Individualrechte und der Sinn für Verantwortlichkeiten in ein Mißverhältnis zugunsten ersterer geraten sind.(9)

Für die USA regt Etzioni deshalb an, die Öffentlichkeit solle für eine Übergangsperiode von ca. zehn Jahren auf die Proklamation neuer Rechte verzichten, weil das unaufhörliche Einführen neuer Rechte eine Art Inflation verursache und den moralischen Anspruch der einzelnen Rechte abwerte. Er fordert, immer zu bedenken, daß jedes neugeprägte Recht einen Rechtsanspruch gegen jemanden beinhaltet. Besonders häufig komme es vor, daß die Forderung nach neuen Rechten entweder Schuldgefühle anderer ausnutzt oder sogar versucht, diese überhaupt erst zu wecken. Etzioni setzt dagegen, daß es nur eine begrenzte Menge von Schuld gibt, die man Leuten aufbürden kann, ohne sie in die Rebellion zu treiben. Damit bewegt er sich sehr nahe an dem, was in den USA den politischen Diskurs der Mittelklassen beherrscht.

Hinzu kommt die Besorgnis, daß die Sprache der Rechte bzw. Rechtsansprüche, auch wenn damit durchaus legitime Ansprüche gemeint sind, polarisierend wirkt und es schwierig macht, zu Kompromiß und Konsens zu kommen (Etzioni 1995: 5ff). Die Sprache der Rechte treibt die Forderungen von einzelnen oder von Gruppen und die Erfordernisse des demokratischen Prozesses gegeneinander. Auch wenn die Konzeption der Rechte vorsieht, daß die Rechte jedes einzelnen durch die Rechte der anderen und die Bedürfnisse der Gemeinschaft begrenzt sind, so führt das Eindringen der Sprache der Rechte in den Alltagsdiskurs doch zu dessen Verarmung und zur Konfrontation. Die Feststellung unterschiedlicher Interessen kann dagegen zum Kompromiß führen. "Es ist etwas anderes, ob zwei Leute von verschiedenen Positionen ausgehen und gemeinsam nach Kompromissen suchen [...] oder ob sie ein Recht auf etwas [...] beanspruchen - und einander im Nu so antagonistisch gegenüberstehen wie die Katholiken und Protestanten in Nordirland oder die Palästinenser und Israelis im Mittleren Osten" (Etzioni 1995: 8). Deshalb schlägt Etzioni die Rückkehr zu einer Sprache der sozialen Tugenden, Interessen und vor allem der sozialen Verantwortlichkeiten vor, weil dadurch das gesellschaftliche Zankpotential reduziert und die soziale Kooperation gefördert wird. Etzioni versucht also, Recht und Verantwortlichkeiten auszutarieren.

Unklar ist hierbei zunächst, wie das Abwägen von Rechten und Verantwortlichkeiten im Bereich der Sozialpolitik aussehen soll. Gibt es bereits einen Überfluß an sozialen Rechten bzw. Ansprüchen des Individuums an die Gesellschaft, sollte also der Sozialstaat eher beschnitten werden? Oder mangelt es im Gegenteil an sozialer Verantwortung, sollten also bestehende soziale Rechte durch einen Ausbau sozialer Leistungen durchgesetzt werden? Ähnlich, wie oben im Zusammenhang mit Walzer dargestellt, läßt auch Etzioni in dieser Frage einen breiten Spielraum. Das tatsächlich als angemessen angesehene Ausmaß der Gewährung sozialer Rechte wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich hoch angesetzt werden, und seine Bestimmung ist dem öffentlichen Diskurs vorbehalten. Für den Fall der USA konstatiert Etzioni jedoch, "das Pendel sei viel zu weit in Richtung extremer Individualismus ausgeschlagen und es sei Zeit für eine Umkehr" (Etzioni 1995: 30).

Grundsätze sozialer Gerechtigkeit

Etzionis Modell der Ausgestaltung sozialer Gerechtigkeit deckt sich in einem wesentlichen Punkt mit dem Walzers: beide basieren auf dem Prinzip der Subsidiarität. Während jedoch Walzer dem (Sozial-)Staat eine explizite Rolle zuweist, indem er ihm die Aufgabe überträgt, annähernde landesweite distributive Gerechtigkeit sicherzustellen, übernimmt bei Etzioni die Gesellschaft diese Rolle. Die folgenden vier Grundsätze sozialer Gerechtigkeit stellen das Kernstück von Etzionis Überlegungen zu diesem Thema dar (Etzioni 1995: 169-173):

Dieses Modell, das die Fähigkeit zur Selbsthilfe in den Mittelpunkt stellt, entspricht offenbar der schlichten Regel, daß jeder das machen soll, was er am besten kann. Es ist streng subsidiär ausgestaltet: zunächst ist jede einzelne Person für ihr Tun selbst verantwortlich; gerät sie in Situationen, die sie aus eigener Kraft nicht bewältigen kann, so obliegt die Pflicht zur Unterstützung ihrer nächsten Umgebung, also der Familie oder lokalen Gemeinschaft. Erst wenn auch diese Hilfe sich als unzureichend erweist, greift die Gesellschaft helfend ein.

An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich, die beiden Begriffe der Gemeinschaft und der Gesellschaft kurz zu erläutern. Für Etzioni "sind Gemeinschaften soziale Netze von Menschen, die einander persönlich kennen - und zugleich moralische Instanzen. Sie nutzen interpersonelle Bande, um ihre Mitglieder zur Beachtung gemeinsamer Werte und Normen [...] zu erziehen" (Etzioni 1995: IX). Im Gegensatz dazu wird die Gesellschaft in Anlehung an Tönnies in der Regel verstanden als eine Gruppe von Menschen, die nur wenig verbindet (Tönnies 1935). Sie basiert auf "Verträgen, die autonome Individuen frei miteinander aushandeln" (Etzioni 1995: 137).

Über dieses Verständnis geht Etzionis Gesellschaftsbegriff hinaus: Die Verpflichtung der Gesellschaft, Gemeinschaften im Krisenfall unterstützend beizustehen, ist nicht nur aus der Anwendung des - vertraglich festlegbaren - Subsidiaritätsprinzips herzuleiten, sondern auch moralischer Art. Die Gesellschaft wird nämlich als eine "Gemeinschaft der Gemeinschaften" verstanden (Etzioni 1995: 173). Aus dieser Beziehung ergibt sich, daß zwischen Gemeinschaften und der Gesellschaft das gleiche Verhältnis gegenseitiger Verantwortlichkeit besteht wie zwischen Individuen und der Gemeinschaft.

Entscheidende Bedeutung für die soziale Sicherung kommt in Etzionis Modell der Familie und der Gemeinschaft zu. Sozialpolitik wird ja gerade dann relevant, wenn der oder die Einzelne sich in einer Situation befindet, in der sie bzw. er sich aus eigener Kraft nicht helfen kann, wenn also der erste Grundsatz sozialer Gerechtigkeit nicht erfüllt ist. Dann sind aber nach Etzioni zunächst und vor allem Familie und Gemeinschaft gefordert, Hilfe zu leisten. Es scheint daher angebracht, Etzionis Ausführungen zu Familie und Gemeinschaft etwas ausführlicher darzustellen, bevor sein Modell sozialer Gerechtigkeit insgesamt kritisch betrachtet wird.

Familie und neue Gemeinschaften

Die deutlichsten konservativen Züge trägt Etzionis Kommunitarismus in seinen Vorstellungen von einer intakten Familie, deren Verlust zu schwerwiegenden Konsequenzen für die Gesellschaft führe: "Wir alle leiden unter den Folgen falscher Erziehung, seien sie schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen oder egoistischen Eltern zuzuschreiben." Er nennt eine Reihe von Straftaten, die besonders im Milieu von sozial verwahrlosten Jugendlichen begangen werden, etwa von Jugendlichen begangene Raubüberfälle auf ältere Menschen, Läden und Tankstellen, Überfälle von Jugendlichen auf Kinder, die auf dem Heimweg von der Schule sind, sowie natürlich Drogenabhängigkeit mit den entsprechenden Folgen. Aufgabe der Familie ist es, solche Entgleisungen zu vermeiden. "Die Eltern sind daher gegenüber der Gemeinschaft moralisch verpflichtet, ihre Kinder nach besten Kräften zu erziehen, und die Gemeinschaften haben die Pflicht - ihnen dabei zu helfen" (Etzioni 1995: 63).

Das Insistieren auf der sozialen Verursachung von abweichendem Verhalten ist zwar ein klassisches "linkes" Thema, würde in Europa aber zu einem Aufruf an staatliche Aktivitäten, nicht jedoch an das Verantwortungsbewußtsein der Eltern selbst führen. Der Appell an diese Art von Verantwortlichkeit ist konservativ. Etzioni versucht diesen Eindruck dadurch abzumildern, daß er die Verantwortung beiden Elternteilen auflastet, d.h. ganz bewußt nicht die Rückkehr lediglich der Mütter in die Kindererziehung fordert. Entscheidend ist für ihn das Ausmaß, in dem sich Eltern den Kindern widmen. In Familien mit nur einem Elternteil kann in vielen Fällen durchaus eine intensivere Betreuung erfolgen, als in Familien, in denen beide Eltern sich in erster Linie ihrer Berufstätigkeit widmen. Ihm gilt allerdings die Familie mit zwei Elternteilen immer noch als der Normalfall. In der kommunitarischen Familie sollen beide die gleiche Verantwortung für ihre Kinder haben und auch ausüben.

Die Gesellschaft soll dabei die Funktion übernehmen, mehr berufliche Arbeit in die Haushalte zu verlagern. Durch Computer, Modems, Satelliten und andere moderne Kommunikationsmittel ist das technisch inzwischen möglich geworden. Außerdem müßten die Möglichkeiten von Teilzeitarbeit ausgedehnt werden. Insbesondere sollten dann auch Väter, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, ermutigt und unterstützt, nicht aber gesellschaftlich stigmatisiert werden. Darüber hinaus schlägt er die Einführung europäischer Errungenschaften wie Kindergeld und einen bezahlten Erziehungsurlaub vor.

Die zugrundeliegende Argumentationsstruktur zielt also darauf, die gesellschaftliche Grundlage der Soziabilität aufrechtzuerhalten, zu stärken oder dort zu rekonstruieren, wo sie nicht mehr intakt ist. Wenn man den gängigen Darstellungen der europäischen Sozialpolitik folgt, so wird dort immer gezeigt, wie der Staat mehr und mehr Aufgaben zu übernehmen hat, die von traditionellen Gemeinschaften nicht mehr ausgefüllt werden können. Zum Beispiel wurde die Armenpflege von den lokalen Gemeinschaften gelöst, um eine größere Freizügigkeit zu gewährleisten und die soziale Mobilität zu erhöhen (vgl. Ritter 1991). Etzionis Strategie nun geht offenbar in die Gegenrichtung: herkömmliche Gemeinschaftsformen wie auch die Familie sollen gestärkt und entsprechend auch (wieder) stärker mit Aufgaben belastet werden. Er ist Soziologe genug, um zu sehen, daß dazu auch Hilfen, Voraussetzungen und Grundlagen nötig sind, welche die Gesellschaft mental und finanziell bereitzustellen hat - aber die Richtung des Denkens geht eben hin zu den Gemeinschaften.

Nun sind die traditionellen Gemeinschaften der dörflichen, statischen Welt zweifellos verlorengegangen. Von allen Kommunitariern wird aber betont, daß für die USA der Aufbau neuer Gemeinschaftsstrukturen charakteristisch ist - selbst in solchen Metropolen wie New York. Durch die postmodernen Technologien werden in den nächsten Jahren wieder sehr viel mehr Menschen zu Hause arbeiten und deshalb auch stärker in ihrem Wohnumfeld präsent sein, das in der Zeit der Großindustrie und der Großbüros tagsüber meist ausgestorben war. Je mehr Bewohner sich aber tagsüber im Wohnumfeld aufhalten, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie sich persönlich kennenlernen und auf diese Weise sich Gemeinschaften herausbilden.

Entsprechend ist bei Kommunitariern, wenn von der Förderung von Gemeinschaft die Rede ist, nicht der simple Rückweg zur traditionellen, meistens einengenden und autoritären Gemeinschaft gemeint, sondern eine "neue Gemeinschaft" (Etzioni 1995: 141). Diese kann auch aus Leuten zusammengesetzt sein, die nicht nahe beieinander leben, sondern sich z.B. aus den verschiedenen Teilen einer Großstadt treffen, um Bücher zu diskutieren oder Veranstaltungen zu organisieren. Heutige Gemeinschaften dürfen nicht mehr schlicht homogen sein, sondern brauchen ein Klima des inneren Pluralismus. Allzu enge Netzwerke, die Pluralismus und abweichende Meinungen verbieten, müssen vermieden werden.

Ich will den Zusammenhang zwischen Etzionis Gesamtkonzept und der Sozialpolitik noch einmal deutlich machen. Grundlegend ist für Etzioni der subsidiäre Charakter sozialer Gerechtigkeit, der impliziert, daß Hilfeleistungen für Personen, die aus welchen Gründen auch immer auf Unterstüzung angewiesen sind, zuerst und so weit wie möglich von deren nächstem sozialen Umfeld zu leisten sind. Gefordert sind also die Familie bzw. die Gemeinschaft. Andererseits sieht Etzioni, daß die Gemeinschaften in der heutigen US-amerikanischen Realität - zu diskutieren wäre, inwieweit dies auch auf die Bundesrepublik zutrifft - zu diesen Unterstützungsleistungen üblicherweise nicht in der Lage sind. Notwendig ist daher eine Stärkung von Familie und Gemeinschaft. Nur in dem Maße, in dem diese gelingt, ist es möglich, ihnen soziale Verantwortung zu übertragen und damit von der unpersönlichen, ineffizienten und in vielen Ländern auch nicht mehr finanzierbaren Form der heute praktizierten Sozialpolitik wegzukommen.

Eine Kritik: die Segregation der Gemeinschaften von der Gesellschaft

So gut gemeint und anregend Etzionis Modell der sozialen Gerechtigkeit auch ist - es provoziert dennoch einige kritische Bemerkungen, die ich im folgenden, gestützt auf Robert Reich und sein Buch Work of Nations (Reich 1992), darlegen will.

Das kommunitarische Modell könnte nämlich "eine Sezession in Gemeinschaften mit vergleichbarem Einkommen" fördern (Reich 1992: 272). Dazu ein paar Zahlen: 1978 betrug der Anteil von Zahlungen der Regierung in Washington an Einzelstaaten und lokale Budgets in den USA im Durchschnitt 27% der Regierungsausgaben, zehn Jahre später nur noch 17%. Der Bundesanteil zur Finanzierung des lokalen Nahverkehrs sank in dieser Zeit um 50%. Die Tendenz geht dahin, daß die reicheren Städte und Gemeinden ihren Bürger weiterhin gut ausgestattete Schulen, gute Straßen, Parks, Wohlfahrtseinrichtungen etc. bieten, während ärmere Regionen, in denen wegen der geringeren Einkommen ja eher ein größerer Bedarf für soziale Dienste besteht, diese Leistungen immer mehr abbauen müssen. Es handelt sich um einen Segregationsprozeß, der auf diese Weise gefördert wird.(10)

Das gilt in besonderem Maße für die öffentlichen Schulen. 1990 verdiente ein Lehrer in Arkansas durchschnittlich 20.300 US$ im Jahr, in Connecticut hätte er 33.500 US$ verdient (Reich 1992: 274f). Deutlicher noch ist ein Vergleich dreier Städte, die alle in der Nähe von Boston liegen. In Belmont verdiente ein Lehrer 1988 im Durchschnitt 36.100 US$. In Sommerville, wo hauptsächlich Arbeiter und im persönlichen Dienstleistungsbereich tätige Menschen wohnen, dagegen nur 29.400 US$. Dort hat ein Drittel der Achtzehnjährigen die High School nicht beendet, und nur ein Drittel plante, die Universität zu besuchen. In Belmont dagegen haben nur 4% den High School-Abschluß nicht geschafft, und über 80% wollen zum College. In Chelsea, wo die ärmsten aus den drei Städten leben, verdient ein Lehrer durchschnittlich 26.200 US$, über ein Drittel weniger als in Belmont. Dort hat mehr als die Hälfte der 18jährigen die High School nicht geschafft, und nur 10% planten, aufs College zu gehen.(11)

Solche Zahlen machen deutlich, daß hier von Chancengleichheit nicht die Rede sein kann. In diesem Beispiel sind alle drei Städte vorwiegend von Weißen bewohnt, so daß das alte Problem der Benachteiligung der Schwarzen noch nicht einmal eine Rolle spielt. Robert Reich hat deshalb erhebliche Zweifel am Konzept lokaler Gemeinschaften angemeldet. Die heutigen Gemeinschaften gruppieren sich nach dem Einkommensniveau: "man kann ohne großes Risiko wetten, daß man ungefähr das gleiche verdient wie die übrigen Leute in der Straße" (Reich 1992: 277). Der neue Geist der Gemeinschaft bedeutet dann im Grunde nur eine Solidarität innerhalb der gleichen Einkommensgruppen, und die Generosität endet an deren Grenzen. Andere Gemeinschaften sollen für sich selbst sorgen.

Es kommt natürlich darauf an, wie weit oder eng das vierte, das gesellschaftliche Subsidiaritätsprinzip in Etzionis Liste ausgelegt wird. Setzt die Hilfe der Gesellschaft, bzw. im Falle der USA die Hilfe des Bundes nur dann ein, wenn die örtlichen Behörden die Schulen überhaupt nicht mehr finanzieren können, oder schon vorher, um eine stärkere Gleichheit der Ausgangsbedingungen zu gewährleisten? Hier ist in Etzionis Konzept jede Abstufung möglich. Je stärker allerdings die lokalen Gemeinschaften gegenüber dem Bund aufgewertet werden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Ausgleichszahlungen auf breite Zustimmung stoßen. Deshalb ist Reichs Diagnose, die Wohlhabenden in den USA betrieben eine Art friedliche "Sezession", und der Kommunitarismus sei dazu eine hilfreiche Ideologie, nicht viel entgegenzusetzen (vgl. Reich 1992: Kap. 23, 24).

Die "Sezession" der Informatiker, Rechtsanwälte, Manager und Forscher hat allerdings schon in den siebziger Jahren und im Zeichen des Individualismus begonnen. Vorher hatte die Ausdehnung der Industrie in die südlichen und westlichen Bundesstaaten auf der Suche nach billigeren Arbeitskräften die Lebensbedingungen eher vereinheitlicht. Diese Tendenz ist in den siebziger Jahren jedoch abgebrochen, als die Industrie begann, ihre Arbeitskraftsuche in Mexiko, Südostasien und an anderen Orten fortzusetzen. "Seitdem sind die meisten ärmeren Städte und Regionen in den Vereinigten Staaten relativ ärmer geworden; die meisten wohlhabenderen Städte und Regionen dagegen wohlhabender" (Reich 1992: 273).

Insgesamt zeigt sich hier, daß das kommunitarische Denken in der Tat weniger ein Gegenkonzept als vielmehr eine Variante innerhalb des amerikanischen Liberalismus ist. Durch seine Gemeinschaftsorientierung trägt es zwar Tendenzen zur Überwindung einer allzu engen Selbstbegrenzung in sich, diese bleiben allerdings durchweg unterhalb der Grenzen des Nationalstaates. Etzionis Verständnis des Nationalstaates als "Gemeinschaft der Gemeinschaften" klingt ohnehin zu sehr bloß rhetorisch. Das Problem einer gesellschaftsweit zu denkenden sozialen Gerechtigkeit gehört ganz eindeutig zu den Schwächen des Kommunitarismus.

4. Fazit

Ausgehend von den eingangs genannten drei Hauptfragen der Sozialstaatsdebatte - also den Fragen nach Umfang und Ausgestaltung des Sozialstaates sowie nach den Grenzen der zugrundeliegenden (Solidar-)Gemeinschaft - lassen sich die aus dem kommunitarischen Denken abgeleiteten Aussagen wie folgt zusammenfassen:

Umfang der Sozialpolitik

Konkrete a priori Aussagen über den "richtigen" Umfang des Sozialstaates sind aus kommunitarischen Konzepten nicht ableitbar. Dieser wird nämlich innerhalb bestimmter, jedoch weit gefaßter Grenzen im Prozeß der öffentlichen demokratischen Willensbildung innerhalb der Gemeinschaft bestimmt und ist daher nicht objektiv festzulegen- nicht für eine bestimmte Gemeinschaft und schon gar nicht global für verschiedene Gemeinschaften. Aus dem gleichen Grund sind keine allgemeinen Aussagen über die Frage möglich, wer zum Kreis derer gehören soll, die von den Leistungen des Sozialstaates profitieren. Betrachtet man den öffentlichen Diskurs über den Sozialstaat in der Bundesrepublik, so wird man aber kaum darüber streiten können, daß eine Reduzierung des Umfangs der Sozialleistungen nicht gewünscht wird.

Eine gewisse Ober- und Untergrenze der Sozialpolitik läßt sich dennoch aus dem Kommunitarismus ableiten. Ein maximales Aktivitätsniveau des Sozialstaates ist zumindest theoretisch recht genau bestimmbar, wenn man Walzers Konzept der komplexen Gleichheit heranzieht. Hier hatten wir gesehen, daß es nicht Ziel des Sozialstaates sein darf, jegliche Form von Ungleichheit zu verhindern. Insbesondere sollten sozialpolitisch motivierte Eingriffe in die Sphäre des Geldes unterbleiben, solange die dort zwangsläufig durch Marktbeziehungen entstehende Ungleichheit bestimmte Grenzen nicht überschreitet.

Eine notwendige Mindestaktivität des Sozialstaates läßt sich aus der kommunitarischen Warnung vor einem übertriebenen Individualismus ableiten. So lehnen die Kommunitarier die Individualisierung von Risiken ab, wie sie in marktradikalen Modellen, etwa der ausschließlich privaten Altersvorsorge, zu finden ist. Kerngedanke ist hierbei immer, daß der Einzelne sich selbst sein Leben und seine Anspruchsrechte nicht garantieren kann. Isoliert hätte er keine Chance, seine Rechte auch zu behaupten. An einem konkreten Beispiel der Sozialpolitik sieht das folgendermaßen aus:

Anstelle der Favorisierung individueller Anspruchsrechte an den (Welt-)Kapitalmarkt durch privatrechtliche Rentenfonds - die derzeit vor allem unter Ökonomen sehr verbreitet ist - wird der Kommunitarier hier stärker politisch statt kapitalmarktorientiert argumentieren. Mit anderen Worten, die Renten müßten nach kommunitarischer Auffassung stärker politisch statt privatrechtlich garantiert werden. Nach rein marktwirtschaftlichen Prinzipien dagegen würde im Krisenfalle schlicht eine Anpassung stattfinden, d.h. einige Pensionsfonds würden ihre Zahlungsunfähigkeit erklären, die übrigen Gelder würden in sicherere Bereiche fließen. Das einzige Problem läge dann bei den einzelnen, deren ganze Alterssicherung von einem einzigen Kapitalfonds abhing. Sie können sich bei ihrer Absicherung keinen Fehler erlauben. Kommunitarier würden gerade in solchen Fällen die Verantwortlichkeit einer politischen, nicht bloß privatrechtlichen Solidargemeinschaft betonen. Die Allgemeinheit hätte letzten Endes die Rentenzahlungen zu verbürgen.

Ausgestaltung der Sozialpolitik

Die gegenwärtige Diskussion um den Sozialstaat ist im Wesentlichen vom Gegensatz zweier unversöhnlicher Positionen geprägt. Vertreter einer Beibehaltung des Sozialstaates in der bisherigen Form und Vertreter einer weitgehenden Privatisierung der sozialen Sicherheit stehen sich gegenüber. Die Kommunitarier nehmen hier eine dritte Position ein. Sie lehnen einerseits - wie gerade dargestellt - die Individualisierung sozialer Risiken ab, schlagen aber gleichzeitig eine Komplementarisierung des Sozialstaates durch eine "Sozialgesellschaft" vor.

Das kommunitarische Konzept kann mit zwei Schlagwörtern charakterisiert werden: es ist erstens streng nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut und sieht zweitens als Hauptakteur die Zivilgesellschaft, genauer: die Gemeinschaften, vor. Der große Stellenwert lokaler Gemeinschaften kann durch verschiedene Argumente begründet werden. So ist erstens die soziale Absicherung durch lokale Gemeinschaften effizienter als auf gesellschaftlicher Ebene, da persönliche Bekannte die Bedürfnisse einer hilfsbedürftigen Person besser kennen.

Zweitens stehen Tugenden und Moral bei den Kommunitariern deutlich vor den Rechtsansprüchen. Die Motivation zu sozialem Handeln kann deshalb nur durch konkrete Vorstellungen dessen erfolgen, was man für gesellschaftlich wünschenswert hält. Reine Rechtsprinzipien, die mit jedem beliebigen Inhalt gefüllt werden könnten, würden dem kommunitarischen Denken dagegen als zu abstrakt und deshalb als zu wenig motivierend erscheinen. Zielvorstellungen werden gesetzt durch konkrete Verbildlichung statt durch generelle Prinzipien. Soziales Handeln setzt moralische Verbundenheit voraus, die eben vor allem auf der Ebene lokaler Gemeinschaften gegeben ist.

Außerdem ist die basisnahe Distribution von Sozialleistungen eher gruppenorientiert, während ein Universalismus der Verteilung jedes Individuum in ein unmittelbares Rechtsverhältnis zur Zentralgewalt setzen würde. Die Allgemeinheit in Form der Zentrale, also der Gesamtgesellschaft bzw. des Bundes, kommt aus kommunitarischer Sicht allenfalls unterstützend nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips hinzu. Bevorzugt werden kommunale Netzwerke der Verteilung. Es gilt ein Vorrang der Selbstorganisation und Selbsthilfe von Gruppen vor allgemeinen Lösungen, die sich eher an Individuen richten würden. Diese Betonung der Partizipation und des Basishandelns mit der Anknüpfung an vorhandene Gruppenstrukturen ist eine Konsequenz der kommunitarischen Individualismuskritik. Vermieden werden soll dagegen nach Möglichkeit die Tendenz zu deren Auflösung oder gar zur Emanzipation des Individuums aus ihren Begrenzungen.

Problematisch ist an diesem Konzept, daß eine Stärkung der Rolle lokaler Gemeinschaften zu einer Schwächung der Rolle der Gesamtgesellschaft führen wird. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips bleibt der höheren Ebene ja nur eine residuale Rolle. Dies kann im Bereich der sozialen Gerechtigkeit zu unerwünschten Effekten führen, auf die ich abschließend kurz eingehen möchte.

Sozialpolitik jenseits des Nationalstaates

Die kommunitarische Betonung von Tugenden im Gegensatz zu Rechtsansprüchen setzt einen ganz bestimmten Typus von tugendhonorierendem gesellschaftlichen Diskurs voraus. Man muß sich z.B. kennen statt anonym zu sein, denn in einer anonymen Gesellschaft zählt nicht die Anerkennung durch andere, sondern allein der "cash value", die Honorierung in Geld. Nun ist die typische Form solcher kleinen, auf persönlichen Beziehungen basierenden Einheiten die lokale Gemeinschaft. Deren Stärkung zu Lasten größerer Einheiten - und dazu zählt auch die Gesellschaft oder der Nationalstaat - kann als einer jener Fragmentierungsprozesse angesehen werden, welche die Globalisierung als Spiegelbilder hervorbringt. Versucht wird, die schwindende Problemlösungskapazität auf nationaler, gesamtgesellschaftlicher Ebene durch die Stärkung der lokalen Ebene zu kompensieren. Dabei muß jedoch eine Erhöhung der Ungleichheit, d.h. eine Abnahme an sozialer Gerechtigkeit, auf nationaler Ebene in Kauf genommen werden. Dies scheint natürlich nicht besonders wünschenswert - es ist jedoch zu bedenken, daß Konzepte für einen funktionierenden Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung bisher nicht in Sicht sind und somit seine (zumindest partielle) Ersetzung durch die Wohlfahrtsgesellschaft wenigstens einen potentiellen Lösungsweg aufzeigt.

Gemeinschaften müssen jedoch nicht unbedingt durch Angehörige der eigenen Nachbarschaft, Stadt oder Nation gebildet werden. Denkbar ist auch die Schaffung von Gemeinschaften, die nationale Grenzen überschreiten. Doch auch hier gilt: Eine Weltgesellschaft wird nur dann kommunitarisch organisiert sein können, wenn sie überschaubare und eng miteinander kommunizierende Untergruppen bildet. Es kann sich hier zum Beispiel um die Angehörigen der eigenen sozialen Schicht handeln, etwa um die neue internationale Klasse der Manager, Anwälte und Künstler. In der Tat sind bereits Tendenzen feststellbar, daß transnationale Gemeinschaften sich vor allem entlang (höherer) sozialer Schichten bilden.

Die von den Kommunitariern propagierte Tugendorientierung eignet sich, das hat Robert Reich sehr genau gesehen und zu recht problematisiert, deshalb durchaus als ideologische Verbrämung von Sozialabbau und Konzentration auf die eigene soziale Schicht. Das kommunitarische Denken hat gewiß außerordentlich sympathische Züge, ist aber gerade dort, wo es um Verteilungsfragen geht, nicht bloß eine harmlose und wohlwollende Konzeption, sondern impliziert auch Begrenzungs- und Ausgrenzungsstrategien wie jede Form der sozialen Gruppenorientierung. Der Preis für die stärkere Gruppensolidarität scheint die Ausgrenzung derer zu sein, die nicht als zur Gruppe gehörig betrachtet werden, wie auch immer diese definiert wird.

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Sachße, Christoph/Engelhardt, H. Tristram (Hg.) 1990: Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt/M.

Walzer, Michael 1988: Socializing the Welfare State, in: Amy Gutmann (Hg.): Democracy and the Welfare State, Princeton, S. 13-26.

Walzer, Michael 1992: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt und New York (zuerst als Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983).

Walzer, Michael 1992a: Liberalismus und Demokratie, in: ders.: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin, S. 37-97.

Anmerkungen

1 Die Begriffe "Sozialstaat" und "Wohlfahrtsstaat" werden hier synonym verwendet; für eine kurze begriffliche Unterscheidung vgl. Alber 1991.

2 vgl. ausführlich dazu Reese-Schäfer 1995.

3 Walzer 1992: 156ff. Er stützt sich bei diesen Überlegungen auf Okin 1975: 6ff.

4 Auffallend ist bei diesen beiden Punkten die wenig präzise Formulierung. Wie hoch das Minimum an elementaren Wohlfahrtsleistungen, der Mindestlohn oder die Gesundheitsbestimmungen angesetzt werden, ist ja zunächst einmal keineswegs klar. Die Offenheit der Formulierung ist jedoch von Walzer durchaus gewollt - an anderer Stelle legt er detailliert dar, wie ihre Konkretisierung in einer Gesellschaft vorzustellen ist; ich werde darauf im folgenden Abschnitt noch näher eingehen.

5 Walzer 1992: 174f.; hier bezieht Walzer sich noch auf Gorz 1974. Seit Gorz für sich die Ökologie entdeckt hat, vertritt er ähnliche Ideen weiter, nur jetzt mit ökologischen Begründungen.

6 Walzer 1992: 134. Das englischsprachige "shabbier" (S. 84) wurde in der deutschen Ausgabe mit "ärmlich" übersetzt.

7 Walzer 1992: 106. Die Rede von den "Gemeinschaften des Charakters" übernimmt Walzer von dem Austromarxisten Otto Bauer, der aus den Erfahrungen des Habsburgerreiches heraus bis heute bemerkenswerte Überlegungen zur Nationalstaatlichkeit entwickelt hatte; vgl. zur Definition der Gemeinschaften des Charakters bes. Bauer 1975: 53f, 61, 71 et passim.

8 vgl. zu dieser Darstellung Walzer 1988.

9 Andere Gesellschaften wie Japan oder China könnten dagegen seiner Ansicht nach eine wesentlich höhere Dosis von Individualismus vertragen (Etzioni 1995: 30). Ziel ist es stets, die richtige Balance zwischen Individualismus und Gemeinschaftsdenken zu finden.

10 Die Daten stammen aus Reich 1992: 272f.

11 Reich 1992: 275; die Zahlen stammen aus dem Boston Magazine, Sept. 1989, S. 144.


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Letzte Änderung: 05.01.2002