AK Solidarität Jetzt!   Fritz-Erler-Akademie   SPD-Ortsverein Tübingen

Tübinger Forum

Frauen und Familien im vereinigten Deutschland -
Bleiben sie auf der Strecke?

Ein Vortrag von

Dr. Regine Hildebrandt

(Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie
des Landes Brandenburg)

Die Veranstaltung fand am 19. Januar 1994 in der Universität Tübingen statt.

(Die Texte der seinerzeitigen Vorworte des AK Solidarität Jetzt! und der Fritz-Erler-Akademie sind zwischenzeitlich verlorengegangen.)

Inhalt:

Vortrag von Dr. Regine Hildebrandt

Ich möchte gern den heutigen Abends mit einer Bemerkung, oder vielmehr mit einem persönlichen Wort beginnen: Mein Enkelsohn hat heute seinen dritten Geburtstag, und seine Oma ist hier und hält einen Vortrag. Früher wäre es für mich undenkbar gewesen, daß ich den Geburtstag eines Familienmitgliedes vergesse, woanders bin oder nicht mitfeiern kann. Zumindest das hat sich für mich geändert, und ich habe mich sehr darüber geärgert. Ich finde es wichtig, die berufliche und die familiäre Seite des Lebens in Übereinstimmung bringen zu können, was viele im Osten geschafft haben. Im Osten waren 92 Prozent der Frauen berufstätig, sie haben Ausbildung und Berufstätigkeit offensichtlich mit Kindererziehung, Hausarbeit und Eheleben verbinden können. Die Scheidungsquoten waren so ähnlich wie im Westen, also ohne signifikanten Unterschied. Man hat diese Dinge vereinbaren können, wenn es auch schwer war; mir gelingt es jetzt nicht mehr. Aber ich werde versuchen, mich zu bessern; außerdem habe ich von Professor Jens und von seiner Frau ein Geburtstagsgeschenk für meinen Enkelsohn bekommen, also hat sich die Fahrt nach Tübingen auch für ihn gelohnt.

Nun will ich nicht wieder das große Gejammere anfangen von all den Dingen, die wir im Osten hatten und nun nicht mehr haben. Ich will auch nicht davon sprechen, was wir im Osten nicht hatten und jetzt haben - davon reden wir in der Regel nicht - aber ich will mit dem beginnen, was ich erlebt habe. Was habe ich erlebt? Warum ist es so, daß die Leute heute der Meinung sind, früher war die Lage zumindest für Frauen günstiger? Eine Infas-Umfrage im Osten aus dem Jahre 1992 über die Situation der Frauen ergab, daß es 82 Prozent der Frauen schlechter geht, gleich schlecht geht es 6 Prozent, gleich gut 5 Prozent und besser 3 Prozent. Und die Westmeinung dazu, ob es den Frauen besser oder schlechter geht, finde ich geradezu originell, denn 7 Prozent sagen, es geht ihnen schlechter nach der deutschen Einigung. Ich beziehe das nicht auf die wirtschaftliche sondern auf die frauenpolitische Situation, und ich glaube, daß die Befragten damit in der Tat Recht haben. Gleich schlecht geht es nach dieser Umfrage 16 Prozent, gleich gut 46 Prozent und besser 5 Prozent. Nach einer Emnid-Umfrage 1991 sagen 78 Prozent im Osten, daß die Chancen der Frauen in der DDR besser waren. Im Westen meinen 39 Prozent, daß es in der DDR besser gewesen wäre. Irgend etwas muß also dran sein, daß für Frauen die Verhältnisse im Osten so waren, daß sie jetzt der Meinung sind, es wäre schlechter geworden. Schauen wir uns an, wie die Lage ist und zwar nicht, um dann wieder zu jammern, sondern um konstruktiv für die Zukunft sagen zu können, was wir denn tatsächlich gemeinsam in Deutschland besser machen könnten.

Ich beginne mit der Berufsausbildung. Wie sieht es bei uns aus? 40 Prozent der Unternehmen wünschen nur männliche Lehrlinge, um die 60 Prozent der restlichen Lehrstellen können dann Jungen und Mädchen konkurrieren. Schwierig sind die Verhältnisse bei der Ausbildungssituation im Osten auch deshalb, weil die geburtenstarken Jahrgänge in diese Ausbildungsjahrgänge kommen und Lehrstellen nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Wie war es vorher? Es waren natürlich ausreichend Lehrstellen da, aber vor allen Dingen - und das ist mir besonders wichtig - waren die Möglichkeiten für Mädchen bei der Berufswahl deutlich breiter gestreut. Die Zeiten, wo man Mädels unbedingt immer Autoschlosser für Busse werden ließ und sie dann unter diesen Dingern lagen und die Ersatzteile kaum tragen konnten, sind in den letzten Jahren lange vorbei gewesen. Das hatte es bei Ulbricht mal gegeben. Es war so, daß Frauen im Prinzip an fast allen Berufen partizipierten, in denen Männer auch gearbeitet haben. Im Osten waren 535 Berufe für Frauen zugelassen, 30 Berufe nicht. Frauen waren im Prinzip in allen Berufsbereichen tätig. In der Industrie war der Anteil der Frauen 40,9 Prozent. In Meisterberufen oder in Fachhochschulausbildungen waren Frauen zu 26 Prozent vertreten, im Westen liegt die Vergleichszahl bei 5 Prozent. 30 Prozent der Ingenieure des industriellen Bereiches in der DDR waren Frauen, während es im Westen gerade 2 Prozent waren. Besonders auffallend finde ich, daß 56 Prozent Frauen gewerblich-technische Berufe hatten, während es im Westen gerade 18 Prozent waren. Und es sieht so aus, daß wir diese Entwicklung im Osten jetzt nacherleben. Auf einmal denkt man wieder, Frauen könnten mit Technik nichts anfangen. 40 Jahre lange konnten sie es aber sehr gut. Ich bin diese Diskussion leid! Wenn 30 Prozent Frauen als Ingenieurinnen tätig waren, wenn sie gezeigt haben, daß sie arbeiten können, dann brauche ich nicht mehr darüber zu diskutieren, ob Frauen in technischen Berufen arbeiten können oder nicht. Sie können es einfach. Im produktiven Handwerk stellen die Frauen 36,6 Prozent der dort Beschäftigten, in der Bauwirtschaft selbstverständlich nur 17,2. Ich sagte ihnen ja auch, daß Frauen nicht alles zu machen brauchten. Im Verkehr arbeiteten 26 Prozent Frauen, im Handel 71,9 Prozent, im Bildungswesen natürlich 77,0 Prozent, im Gesundheitswesen 83,0 Prozent. Der Anteil von Frauen an den Berufstätigen insgesamt war 48,9 Prozent.

Damals stand also eine breite Berufspalette zur Verfügung, was nun nicht mehr der Fall ist. Außerdem kam es selten vor, daß Frauen ihre Berufsausbildung absolvierten und zum Schluß dennoch ohne Abschluß übrigblieben. Am Ende der Ausbildungsphase waren im Osten nur 6 Prozent der Frauen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Im Westen sind es dagegen über 30 Prozent. Im Hausfrauenverband sind es über 50 Prozent, aber man muß diese Zahl relativieren, denn der Verband ist nicht repräsentativ. Die Voraussetzung einer Wahlmöglichkeit zwischen Beruf und Haushalt ist eben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Und genau dabei müssen wir den Frauen - aber auch den Männern - helfen. Ich bin zwar für Arbeit und deswegen auch für die Berufsausbildung der Jugend zuständig, aber zu meinem Kummer ist dies heutzutage nicht immer ohne weiteres möglich. Im Westen ist es üblich, daß die Jungen und Mädels von der Schule kommen und sich um eine Lehrstelle bemühen. Wenn sie zum Arbeitsamt oder zur Berufsberatung gehen, dann wird ihnen geholfen; tun sie das aber nicht, dann darf sich das Arbeitsamt aufgrund des Datenschutzes nicht um sie kümmern. Das Arbeitsamt hat ein Angebot zu machen und wer kommt, dem wird geholfen; wer nicht kommt, dem nicht.

Im Osten war es so, daß die benachteiligten Jugendlichen schon ein dreiviertel oder halbes Jahr vorher ihre Lehrstellen bekamen, weil man ja wußte, daß sie nachher nicht konkurrieren konnten. Die anderen kamen nachher auf den entsprechenden Ausbildungsstellenmarkt und haben sich die vorhandenen Stellen untereinander geteilt. Natürlich bekam man nicht immer seinen Traumberuf, aber das ist jetzt auch nicht der Fall. Die Jugendlichen sind in der Regel auch heute froh, wenn sie etwas haben, was ungefähr in der Richtung ihrer Vorstellung liegt. Wir müßten uns in noch viel stärkerem Maße darum kümmern, damit die Jugendlichen, auch wenn sie von sich und von zu Hause aus nicht so strebsam sind, zu einer abgeschlossenen Berufsausbildung kommen. Das betrifft natürlich die Mädchen in viel stärkerem Maße als die Jungen, weil bei ihnen die Schwierigkeiten, sie unterzubringen, erheblich größer sind.

Zum Thema Ausbildung möchte ich nur noch sagen, daß die DDR das Land mit der höchsten Rate abgeschlossener Berufsausbildungen überhaupt war. Natürlich war das auch "fürsorgliche Bevormundung"; man hat immer ein bißchen nachgeholfen. Aber zum Schluß war die Ausbildung da, auch für die Mädels. Nun kann man natürlich sagen, daß bei der Berufstätigkeit letztlich die Ausgewogenheit zwischen den qualifizierten Tätigkeiten von Männern und der Arbeit von Frauen auch nicht gegeben war. So lag der Anteil der Frauen bei den mittleren Gehältern - das heißt bei 400 bis 500 Mark Ost pro Monat - in der DDR bei 63,1 Prozent. Bei 600 bis 700 Mark betrug der Frauenanteil 77,7 Prozent, bei 1000 bis 1100 Mark 36,9 Prozent und bei mehr als 1700 Mark nur noch 15,7 Prozent. Also sie merken, in den niedrigeren Gehaltsgruppierungen treten Frauen gehäuft auf und am Ende der Skala bei den höheren Gehältern sind Frauen seltener. Dies hatte seinen Grund jedoch nicht in einer unterschiedlichen Entlohnung, denn es gab gleichen Lohn für gleiche Arbeit, sondern es war so, daß in den besser dotierten Stellungen letztlich die Männer überwogen und die Frauen nicht so stark vertreten waren. Aber Frauen waren zumindest vertreten und ihr Anteil an den Familieneinkommen betrug im Osten etwa 40 Prozent, während es im Westen nur 18 Prozent beträgt. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit und damit auch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten in diesem Bereich sind also maßgeblich abhängig von der Möglichkeit, auch ohne die eheliche Beziehung finanziell überleben zu können. Ich bin also für wirtschaftlich selbstständige Frauen, aber nicht unbedingt für Ehescheidungen. Ich bin selbst glücklich verheiratet und hatte vor vier Jahren schon Silberhochzeit. Aber für die Frau im Osten - und da erzähle ich jetzt von mir - bedeutete Berufstätigkeit nicht nur Geldverdienen. Ohnehin waren Gehälter und Löhne nicht so hoch. Die Verbesserung der finanziellen Situation der Familie durch die Berufstätigkeit der Frau war nur relativ. Natürlich war es schön, wenn Geld dazukam, aber wichtig für die Frauen war auch das Partizipieren am gesellschaftlichen Leben. Wenn Sie davon ausgehen, daß 92 Prozent der Frauen im berufsfähigen Alter auch berufstätig waren, können sie sich vorstellen, daß nicht viele nur zu Hause waren. Für 2 Prozent der Frauen war das Hausfrauendasein der Traumberuf, aber eine Infrastruktur für Frauen, die zu Hause sind (Wohlfahrtsverbände oder Initiativen der unterschiedlichsten Art) existierten nicht. Durch Berufstätigkeit, durch Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen, waren Frauen mittendrin in der Gesellschaft.

Ich komme jetzt kurz auf den "Sozialistischen Wettbewerb" zu sprechen. Es war ja im Osten fast alles geplant, und wichtig war vor allem "sozialistisches Arbeiten" nach Arbeitsplan. Wichtig war außerdem der Nachweis "sozialistischen Lernens", das war eine Weiterbildungsabrechnung, die man jedes Vierteljahr machen mußte. Wenn sie nichts gemacht hatten, war es gar nicht so einfach jedes Vierteljahr etwas aufzuschreiben. Sie mußten sich da wirklich Gedanken machen und wirklich etwas unternehmen und deswegen wurde die Zeit der Berufstätigkeit praktisch zur ständigen Qualifizierung genutzt. Es gab z.B. Leute, die erst Facharbeiter waren und dann eine Fachschulausbildung gemacht haben, sodaß sie Ingenieure wurden oder ein Hochschulstudium absolvierten. Dadurch also, daß die Weiterbildung gewollt war und abgerechnet werden mußte, mußte man sich auch darum kümmern, egal ob man wollte oder nicht. Außerdem gab es noch den Frauenförderplan. Dieser besagte, daß man Frauen in besonderer Weise in die nächsthöhere Kategorie befördern oder ihnen helfen sollte, ihre Qualifikation zu verbessern. Und da ich hier an einer Universität bin, kann ich erzählen, daß ich mit Hilfe des Frauenförderplans promoviert habe. Nach der Universität kam ich in die Industrie kam, wo eine Promotion an sich völlig abwegig war. Weil ich aber unbedingt wollte, habe ich mir eine außerplanmäßige Aspirantur an der Humboldt-Universität in Berlin besorgt und in meinem Betrieb durchgesetzt, daß ich über den Frauenförderplan diese außerplanmäßige Aspirantur bekam, was auch gewisse Freistellungen - wenn auch nicht viele - beinhaltete. Die Männer, die gleichzeitig dort begonnen hatten zu arbeiten, durften dagegen nicht promovieren. Auch so etwas war möglich. Auf diese Art und Weise hatte auch ich geholfen, den sozialistischen Wettbewerb zu erfüllen, weil sich wieder jemand weiterqualifiziert hatte. So war die ständige Qualifizierung einerseits gesellschaftliches Ziel, andererseits aber stand auch der wirkliche Nutzen fachlicher Art im Vordergrund.

Jetzt kommt der dritte Punkt im "Sozialistischen Wettbewerb": "sozialistisch Leben". Da sollten sie gemeinsame Veranstaltungen machen, zur Kunstausstellung nach Dresden fahren, ins Theater gehen oder auch mal ein Schwein grillen. Sie konnten aber auch eine mineralogische Arbeitsgemeinschaft ins Leben rufen. Bei uns im VEB Berlin-Chemie, einem Arzneimittelhersteller, gab es immer Betriebsfestspiele. Da taten sich die schreibenden Arbeiter, die Volkstanzgruppe, der Chor und alles, was man sonst noch hatte, zusammen und organisierten die Betriebsfestspiele. Ganz selig war man darüber, daß wir diese mineralogische Arbeitsgemeinschaft gegründet hatten, für die wir auch ein paar tausend Mark vom Betrieb bekamen, womit wir eine Exkursion innerhalb der DDR zu mineralogischen Fundpunkten finanziert haben. Wir haben dann also Trümmerachat gesucht und Amethyst, z.B. in Oberschlottwitz bei Dresden. Mit der ganzen Familie haben wir da am Wochenende Steine gepickelt und hinterher selbst geschliffen. Man hatte ja im Betrieb alle Arten technischer Abteilungen, die dafür sorgen mußten, daß der Betrieb nicht zusammenfällt, und die haben uns dann auch Maschinen gebaut, mit denen wir die Steine schleifen konnten. Die Steine haben wir dann zusammen mit einer schönen Skizze der Fundorte ausgestellt, und damit hatte sich die Volksbildung erhöht. Das war also möglich. Mit der ganzen Familie sind wir weggefahren, was meinen Sie, wie gemütlich das war. Ich erzähle Ihnen das, um ihnen klarzumachen, daß die Arbeit im Osten z.B. für mich nicht nur das "Runterschrubben" chemischer Versuche war und das Auswerten der Ergebnisse, sondern daß die Abeit wirklich auch Bildung und die allgemeine Integration in die Gesellschaft durch Kollektivleben bedeutete. Genau aus diesem Grund waren selbst die Rentner noch zu 20 Prozent berufstätig. Sie verdienten auf diese Art und Weise Geld und leisteten etwas, aber sie hielten eben auch den Kontakt zu den Kollegen und den heißen Draht zu den ganzen betrieblichen Veranstaltungen. Umgekehrt müssen Sie sich vorstellen, was es heißt, wenn das alles weg ist. Wenn der Betrieb weg ist, ist gleichzeitig alles weg, was die Weiterbildung und die kulturelle Arbeit vor Ort ausgemacht hat. Z.B. waren die großen Clubhäuser und Sportanlagen, die wir hatten, nur über den Betrieb finanzierbar. In dem Moment, wo der Betrieb weg ist, ist das alles auch weg. Und in dem Moment, wo der Mensch arbeitslos wird, hat er diesen Kontakt zu seinen Integrationsfiguren, zu seinen Kollegen und zu der Belegschaft verloren.

So stellte sich bei uns normalerweise auch das berufstätige Leben der Frauen dar. Warum war das möglich? Weil beim Betrieb nicht nur die Kulturhäuser und die entsprechenden Sportstätten waren, sondern natürlich auch Kindertagesstätten. Es gab sie sowohl in den Wohngebieten als auch in den Betrieben. Und da hatten Sie die Möglichkeit und das Recht, Ihre Kinder unterzubringen. Im Alter von 0 bis zu 3 Jahren in der Krippe, von 3 bis zu 6 Jahren im Kindergarten und von 6 bis zu 10 Jahren im Kinderhort bei der Schule. Jetzt habe ich "unterbringen" gesagt, und das hat vielleicht den Touch des Abschiebens, nach dem Motto: Die Mutter verwirklicht sich, die Kinder werden irgendwohin abgeliefert und werden da mehr oder weniger stark für das sozialistische System indoktriniert. Das muß man sehr differenziert sehen. Die Arbeitszeiten im Osten waren sehr lange: achtdreiviertel Stunden pro Tag waren üblich. Wir hatten also in der DDR noch nicht einmal die Vierzig-Stunden-Woche realisiert. Mit achtdreiviertel Stunden Arbeit plus eine dreiviertel Stunde Pause waren sie also neuneinhalb Stunden im Betrieb. Das war sehr lang, und es war natürlich für die Kinder oft strapaziös, so lange Zeiten in den Kindertagesstätten zu verbringen. Wir wollten natürlich gerne verkürzt arbeiten, aber das war in der DDR eben nicht möglich. Aber so schlimm, wie es sich anhört, ist es auch damals nicht gewesen. Ich selbst hatte meine Kinder beispielsweise in einem evangelischen Kindergarten in unserer Gemeinde, wo sie ausgesprochen behütet waren, vom Kindergarten übers Hortalter bis hinterher zur jungen Gemeinde und zum Konfirmandenunterricht. So etwas gab es eben auch. Man muß differenziert urteilen, denn hier haben tatsächlich Leute gearbeitet, die aus Liebe zu den Kindern diesen Beruf ergriffen haben. Heute erlebe ich, daß wir Kindergärten schließen müssen, weil die Geburtenrate um zwei Drittel zurückgegangen ist. Wir müssen also Kindertagesstätten in Brandenburg schließen, weil keine Kinder mehr da sind, obwohl wir das Recht auf Kinderbetreuung in der Verfassung festgeschrieben haben. Wenn ich dann die Erzieherinnen durch Fortbildung und Umschulung in andere Berufe umlenken möchte, wollen sie das oft nicht. Sie haben aus Engagement für die Kinder gearbeitet, aus Liebe zu den Kindern, und ich meine, so etwas macht sich auch in der Erziehungsarbeit durchaus bemerkbar.

Im Osten hatten wir eine relativ hohe Geburtenrate, die etwa bei 1,7 bis 1,9 pro Elternpaar lag, während sie im Westen immer schon 1,3 betrug. Wir hatten also relativ viele Familien mit 2 oder 3 Kindern, wogegen im Westen über 50 Prozent der Elternpaare nur ein Kind haben. Kindertagesstätten sind auch notwendig, damit Kinder lernen mit Kindern umzugehen und in der Gemeinschaft aufzuwachsen. Ich denke, es ist ganz wichtig, daß man das im Kopf hat, wenn man über Kindertagesstätten redet. Kindertagesstätten sind einerseits für berufstätige Mütter, aber auch familienbegleitend gesellschaftlich wirklich obligatorisch, und ich plädiere gerade auch in dieser Gesellschaft mit den vielen Einzelkindern dafür, daß wir uns intensiv darum bemühen. Nach meiner Erfahrung ist es wichtig und notwendig.

Nachdem ich nun über Berufstätigkeit bzw. Beruftstätigkeit in Familien mit Kindern gesprochen habe, möchte ich ihnen hierzu noch eine Ipos-Umfrage von '92 zu dem Thema Sollten Mütter nach dem Mutterschaftsurlaub gleich wieder arbeiten oder längere Pausen machen? vortragen: Danach wollten im Osten nur 12 Prozent nach dem Mutterschaftsurlaub gleich wieder arbeiten. Nach dem Erziehungsurlaub für das Kind wollten 71 Prozent wieder arbeiten, eine lange Berufspause wünschten sich 14 Prozent, nur 2 Prozent wollten den Beruf völlig aufgeben. Wie sah das im Westen aus? Nur Mutterschaftsurlaub gaben 7 Prozent, nur Erziehungsurlaub 41 Prozent, eine lange Berufspause 40 Prozent und den Beruf aufgeben 9 Prozent an. Wenn ich jetzt die kurzen Phasen vergleiche, also nur Mutterschafts- und Erziehungsurlaub, dann sind es im Osten 83 Prozent der Frauen, die wieder in den Beruf zurückkehren möchten. Im Westen sind es insgesamt nur 48 Prozent. Die lange Berufspause oder das Aussteigen wünschen sich im Osten 16 Prozent, im Westen 49 Prozent. Für mich als Frauen- und Familienpolitikerin ist es besonders wichtig, daß solche Umfragen immer noch signifikant unterschiedliche Ergebnisse zur Folge haben. Die Frage ist, ob die Prägung durch die Verhältnisse so ist, daß die Frauen im Westen wirklich durchaus gewillt sind, so lange ihren Beruf aufzugeben? Wir wissen, wie groß die Schwierigkeiten sind, hinterher wieder hineinzukommen, auch wenn es Einstiegsprogramme der Arbeitsverwaltung gibt, um den Frauen den Anschluß zu ermöglichen. Gerade heutzutage bei den schnellen Entwicklungen der Technik und auch der Methodik ist dies besonders schwer mit einer Ausbildung, die man vor dreißig oder vor zwanzig Jahren genossen hat.

Auf die Frage: Sollte man die Berufstätigkeit der Frauen fördern? antworten im Osten 86 Prozent aller Befragten mit "Ja" und 14 Prozent mit "Nein", im Westen 73 Prozent aller mit "Ja" und 24 Prozent mit "Nein". "Nein" sagen also im Osten 14, im Westen 24 Prozent der Menschen. Hier dürften die Unterschiede nicht signifikant sein. Ich denke, daß wir hier in einer Umbruchphase sind, in der man zwar allgemein sagt, die Frau könne ja arbeiten, aber wenn es konkret wird, dann soll sie nicht mehr - nicht zuletzt wegen der Kinder. Eines kann ich Ihnen nur sagen: Die Tatsache, daß im Westen viele Frauen zugunsten der Kinder die Berufstätigkeit aufgeben, führt dazu, daß sie in ihrem Leben nie wieder eine passable berufliche Entwicklung erreichen können. Wer einmal aus dem Beruf heraus ist, kommt nachher mit einiger Mühe durchaus noch einmal hinein, aber natürlich nie wieder in wirklich anspruchsvolle Bereiche. Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, normalerweise gelingt es aber nicht. Wenn Sie Kinder haben und wenn Sie ihre Philosophie der Erziehung der Kinder entwickeln, behalten sie im Auge, daß für die Frau die berufliche Entwicklung ganz entscheidend davon abhängt, wie lange sie die "Kinderphase" ausdehnt. Aus meiner Erfahrung und aus der Erfahrung vieler Frauen in Ostdeutschland empfehle ich Ihnen, Kompromisse zu finden und dieses "Einmal-Aussteigen und Weg-vom-Fenster-sein" zu vermeiden. Sie müssen durch ständigen Kontakt dranbleiben, auch wenn Sie relativ stark verkürzt arbeiten - und diese Flexibilisierung muß uns ja wohl gelingen -, damit Sie den Kontakt und den Draht zu ihrer Fachrichtung und zu dem sich entwickelnden Wissen in ihrem Bereich nicht verlieren. Dies halte ich für maßgeblich und empfehle ich allen. Es ist für mich ganz wichtig, daß die Frauen dies wollen.

Wenn wir jetzt auf die Emanzipation zu sprechen kommen, dann haben wir nur die Möglichkeit, diese Emanzipation zu verwirklichen, wenn Frauen letztlich in allen Bereichen, in allen Berufen, in allen entsprechenden Organisationen oder Verbänden gemäß ihrem Prozentsatz an der Bevölkerung präsent sind. Es gibt keine Gleichstellung, wenn wir uns auf bestimmte Sektoren beschränken, wie das im Westen bisher der Fall war, wo es solche typischen Frauenberufe gibt, wie zum Beispiel Altenpflegerin. Dort wird nach dem Motto verfahren: Mutti hat ja genug Erfahrung mit der Familie; wenn die Kinder aus dem Haus sind, macht Sie noch einen dreiwöchigen Kurs, und dann ist sie Altenpflegerin. So wird dieser Beruf angesehen, so wird er auch bezahlt, und das ist mir unerträglich. Deswegen haben wir in Brandenburg schon in der ersten Legislaturperiode ein Sozialberufsgesetz verabschiedet, daß den Beruf der Altenpflegerin bzw. des Altenpflegers auch gesetzlich so ausstattet, daß er anerkannt ist und auch adäquat entlohnt wird.

Es ist ein typisches Problem dieser Gesellschaft, daß man Berufe oder Tätigkeiten oder Aufgaben oder überhaupt ein bestimmtes Verhalten Frauen zuschiebt, nach dem Motto: Die machen das schon und auch noch mehr oder weniger gemeinnützig; Vater arbeitet, Mutter beschäftigt sich damit! Das ist für mich wirklich unerträglich. Deswegen ist es frauenpolitisch ganz wichtig, daß das Dabeisein der Frauen, das Machen, das Mitmischen, z.B. das Dasein als Ingenieur, realisiert wird. Wichtig ist deswegen nicht nur eine Frauenbewegung mit Diskutieren und Demonstrieren. Das hat auch seinen Sinn, und wir müssen das im Osten nachholen, aber reden können wir noch Jahrzehnte, ohne etwas zu erreichen.

Ich lese Ihnen jetzt etwas vor, von dem ich nicht wußte, ob ich es Ihnen vorlesen soll. Es sind Textzitate zum Thema Gleichstellung der Frau. Ich war schockiert als ich gelesen habe, daß es im Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 30.1.1953 heißt: Wer die Verantwortung des Mannes und Vaters als Haupt der Ehefrau und der Familie leugnet, stellt sich in Gegensatz zum Evangelium und zur Lehre der Kirche. Es wird noch besser: Kirchenrechtler Mörsdorf schrieb 1954: Die Verteilung der Rollen zwischen Mann und Frau ist nicht willkürlich, sondern in der Schöpfungsgeschichte grundgelegt. Die Frau steht in einer seinsmäßigen Abhängigkeit vom Manne, dem Ersterschaffenen und Haupte der Frau. Zuletzt noch ein Zitat aus einer 500-Seiten-Arbeit eines katholischen Theologen aus dem Jahre 1957: Mithin ist Befehlen eine naturhafte Sonderbefähigung des Mannes, Gehorchen eine ebensolche der Frau. Wenn Sie bedenken, daß das zwar Jahrzehnte her ist, aber eigentlich zu einer Zeit geschah, in der man erwarten konnte, daß dies nach der in wesentlichen Teilen von den Trümmerfrauen bewältigten Aufbauphase, endgültig vorbei wäre, sehen Sie, daß es eine existentielle Aufgabe für uns ist, uns wirkungsvoll dagegen zu wehren!

Da ich hier in einer Universität bin, möchte ich am Beispiel der Hochschulen die enormen Erfolge von Frauen in höheren Positionen illustrieren: In Westdeutschland sind 43,8 Prozent der Studienanfänger Frauen, 40,9 Prozent der Studierenden - da fallen bereits die ersten 3,1 Prozent weg - sind Frauen, 39,2 Prozent der Absolventen, 26,3 Prozent der Promovierten, 22,3 Prozent der wissenschaftlichen Angestellten, 14,2 Prozent der C1-Stellen, 9,2 Prozent der Habilitierten, 8,6 Prozent der C2-Professuren, 5,5 Prozent der C3-Professuren und 2,6 Prozent der C4-Professuren. Hier sehen sie, wie Frauen vertreten sind! Wenn Frauen mit Ach und Krach noch ein Studium anfangen, verschwinden sie während des Studiums und natürlich auch während der wissenschaftlichen Arbeit, während des Promovierens und während der Habilitation fortwährend. Ich habe ein schönes Beispiel aus dem Osten, wo wir nachdrücklich bemüht sind, die Frauen anders zu repräsentieren. Wir haben bei den Fachhochschulen von 43 Professuren 8 Frauen, das sind 18,6 Prozent. Natürlich, wenn sie es messen an 8 oder 5 oder 2 Prozent, dann ist das Spitze, aber mit 18,6 Prozent kann man sich noch nichts einbilden, wenn man der Meinung ist, die geistige Kompetenz der Frauen und der Männer ist andeutungsweise gleich entwickelbar. Auch die Verteilung der Promotionen an der Potsdamer Universität fand ich beeindruckend: 1989 wurden von 35 Promotionen 12 von Frauen abgelegt; 1990 waren es 21 von 40, 1991 19 von 25. Hier waren also deutlich mehr als die Hälfte der Promoventen noch weiblich. Aber wenn es um die B-Promotionen, also um die Habilitationen geht, dann ist es so, daß von 21 Abbrüchen seit 1990 16 auf Frauen entfielen. Es ist ein Kapitulieren vor den Schwierigkeiten, denn es dürften viele Alleinerziehende dabeigewesen sein. 22 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind Alleinerziehende, im Westen wie im Osten! Angesichts solcher Schwierigkeiten - wenn sie z.B. noch nicht einmal das Geld nicht haben, um ihre Arbeiten zu drucken - geben viele auf. Soviel zur Repräsentanz der Frauen im Bereich der Akademiker.

Ich sage es noch einmal: Frauen müssen überall dabei sein. Wir brauchen nicht unbedingt Demonstrationen zu machen, sondern wir müssen durchsetzen, daß Frauenarbeit alltägliche Realität wird. Ein Mittel dazu sind z.B. Gleichstellungsbeauftragte. Wir haben in Brandenburg Gleichstellungsbeauftragte in der Kommunalverwaltung, in den Hochschulen und in den Ministerien. Wir machen jetzt ein öffentliches Dienstgesetz, das es ermöglicht, daß Frauen hinsichtlich ihrer Ausbildung so entwickelt werden, daß sie in die entsprechenden höheren Positionen kommen. Man muß wollen, daß Frauen in höhere Positionen kommen, man muß es gestalten, man muß es in Gesetze fassen und man muß es durchführen.

Nun kommen wir zur Familie. Wie ich mir die Familie vorstelle, habe ich ja schon angedeutet. Wenn 92 Prozent der Frauen berufstätig sind, besteht die Familie aus Mutti und Papa, die Arbeit haben, und den Kindern, die eine bestimmte Zeit des Tages in Kindertagesstätten verbringen. Abends kommt die Familie wieder zusammen. So, denke ich, wäre die Familie ideal. Allerdings nicht mit den Arbeitszeiten, die wir im Osten hatten, sondern, um mit Esther Villar zu sprechen, vielleicht mit der 25-Stunden-Woche. Die Männer arbeiten 5 Stunden, die Frauen arbeiten 5 Stunden und die Kinder sind 5 Stunden in der Schule oder in der Kindertagesstätte. Dann kommt die Familie zusammen und kümmert sich gemeinsam um die Familie. Es soll nicht so sein, wie in der Regel im Westen und jetzt auch bei uns (denken sie an meinen Enkelsohn heute!), daß der eine Ehepartner sich um die Kinder kümmert, während der andere Karriere macht und wie ein Komet bei der Familie vorbeikommt. Ich denke, daß viele Probleme der Jugendlichen und der kaputtgehenden Familien auch ein Ergebnis der fehlenden Zuwendung durch die Väter ist. Wer kümmert sich denn um die Familien, wer ist tatsächlich in der Lage, Zeit und Kraft dafür einzusetzen, hier in der Bundesrepublik Deutschland, in der Leistungsgesellschaft? Wie lange sind die Zeiten, die sich Mann und Frau um die Familie kümmern? Im Osten machen das die Mütter ca. 3 Stunden und die Väter 1,5 Stunden pro Tag. Der Vater im Westen hat ganze 17 Minuten Zeit! Dabei ist Weihnachten schon miteingerechnet! Diese Zahlen muß man den Menschen dieser Gesellschaft gerade in diesem Jahr der Familie ins Gedächtnis rufen.

Fortsetzung ...


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Letzte Änderung: 05.01.2002