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Tübinger Forum

Standort Deutschland -
Wie sichern wir Arbeit, Wirtschaft und Umwelt?

Ein Streitgespräch
Prof. Dr. Rudolf Hickel
(Prof. für Wirtschaftswissenschaften,
Universität Bremen)
       Prof. Dr. Joachim Starbatty
(Prof. für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftspolitik,
Universität Tübingen)

Moderiert von Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin
MdB, Stellv. Vorsitzende der SPD

Die Veranstaltung fand am 12. Januar 1994 in der Universität Tübingen statt.


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Beantwortung von Fragen aus dem Publikum

Nach dieser Diskussion machte das Publikum von der Möglichkeit Gebrauch, Fragen zu stellen. Nach einer möglichen Reform des Sozialsystems wurde dabei ebenso gefragt wie nach der Möglichkeit umweltverträglicheren Wirtschaftens und nach dem Problem der internationalen Wettbewerbsfähgikeit. In diesem Zusammenhang wollte ein Zuhörer wissen, wie die Bundesrpublik in Konkurrenz zu Niedriglohländern bestehen könne. Während ein Redner noch einmal nachfragte, ob die Bundesbank tatsächliche fehlerhafte Zinspolitik betrieben habe, erkundigte sich ein anderer, wie denn die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der deutschen Einheit empirisch feststellbar sei. Zum Abschluß in der Chemie wurde angemerkt, daß dadurch keineswegs neue Leute zu 'Billig-Konditionen' eingestellt würden, da man in der Chemie auf qualifizierte Mitarbeiter angewiesen sei.

Mit den folgenden Beiträgen nahmen die Diskutanten zu den aufgeworfenen Fragen Stellung.

Joachim Starbatty:

Die Reformierung des Sozialsystems ist natürlich ein umfassendes Thema. Der Grundfehler besteht darin, daß es über Umlagen finanziert wird. Umlagenfinanzierung bedeutet, daß Anonyme einzahlen und Anonyme herausnehmen, um es auf einen Punkt zu bringen. Und immer, wenn sie anonyme Zahler und anonyme Nutznießer haben, explodieren die Systeme, weil sich keiner für das System verantwortlich fühlt. Das hat bei uns über die Lohnzuwächse noch einigermaßen funktioniert, aber es wird in Zukunft nicht mehr funktionieren, weil die Lohnzuwächse nicht mehr da sind und weil die Veränderung der Alterspyramide das System zum Bersten bringt.

Ich will die Arbeitslosenversicherung als Beispiel herausgreifen. Arbeitslosenversicherung bedeutet, daß diejenigen, die Arbeit haben, einzahlen und diejenigen, die keine Arbeit haben, daraus finanziert werden. In guten Zeiten werden Überschüsse angelegt und in schlechten Zeiten lebt man von den Überschüssen. Was hat man mit dieser Kasse gemacht? Der Staat hat in guten Zeiten die Überschüsse geplündert, weil niemand dafür verantwortlich war aufzupassen, und in schlechten Zeiten, wo wir diese Kasse brauchen, muß der Staat wieder zuzahlen. Warum? Weil für diese Kasse im Prinzip niemand zuständig ist. Man müßte dafür sorgen, daß sowohl die Beitragszahler, als auch diejenigen, die die Kasse verwalten, ein Interesse daran haben, daß mit diesen Mitteln knapp umgegangen wird. Das hieße, daß die Kasse nur für Verwendungen angetastet würde, die wirklich etwas mit dem Arbeitsmarkt zu tun haben und daß die Arbeitslosenversicherung nicht mehr als Verschiebebahnhof for soziale Wünsche der Regierung benutzt wird. Das kann man konkret machen, indem man jedem, der einzahlt, die Möglichkeit gibt, auch wieder etwas herauszubekommen. Das wäre eine 'klassische' Versicherung: Wenn man die Versicherung nicht in Anspruch nimmt, bekommt man etwas zurück, genau wie das z.B. bei der PKW-Versicherung der Fall ist. Dann würden die Leute genauer aufpassen. Wenn jemand beispielsweise ein oder zwei Wochen arbeitslos ist und nachher auf Rückflüsse warten kann, dann überlegt er sich, ob er die Kasse in Anspruch nimmt oder nicht. Wir müssen also überlegen, wie wir mit dem Geld in der Sozialversicherung besser umgehen können.

Eine zweite Sache: Wissen Sie, wen ich für die Arbeitslosenversicherung verantwortlich machen würde? Die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften sollen die Arbeitslosenversicherung verwalten. Das wäre eine Gruppe, die genau weiß, wie man damit umgehen kann. Dann hätten wir jemand, der dafür verantwortlich ist, und wir hätten auch bei den Privaten Interesse, darauf zu achten, daß das Geld nicht einfach zurückfließt, denn wir fahren vorsichtig, wenn wir wissen, daß das entsprechende Konsequenzen bei der Einstufung der Rabatte hat.

Ein weiteres Beispiel ist die Krankenversicherung mit ihren verdrehten Anreizen. Wann verdient ein Arzt? Der Arzt verdient, wenn die Leute krank sind und lange leben. Kein Arzt verdient an gesunden Leuten. Die Konsequenz ist, daß die Ärzte gar kein Interesse haben, Leute zu heilen. Sie tuen es natürlich doch, aber an sich müßten sie von den Anreizen her gesehen die Leute krank sein lasssen, weil sie daran verdienen können. Und was machen sie weiter? Sie müssen Apparaturen anschaffen, weil sie an den Apparaturen verdienen und das treibt natürlich die Kosten hoch. Das ist ein perverses Anreizsystem.

Man könnte jetzt das ganze Sozialsystem so durchdeklinieren. Ein weiters Beispiel: Lohnfortzahlungen. Wann werden die Leute krank in Deutschland? Wer wird krank in welchen Bereichen? Wir haben das Land mit den höchsten individuellen Fehlzeiten. Nicht, weil wir alle krank sind, sondern weil es sich bei uns lohnt, manchmal krank zu sein. Das müssen wir ändern, denn auf Dauer ist das System so nicht mehr finanzierbar. Die jetzige Methode, Leute zu denunzieren, die krank feiern, obwohl sie nicht krank sind, ist eine unwürdige Methode. Schauen Sie sich an, wie der Krankenstand jetzt ist. Wir haben kaum noch Kranke, weil die Leute fürchten, jetzt entlassen zu werden, wenn sie krank sind. Das ist ein unsoziales System. Vorher haben die Faulen die Fleißigen ausgebeutet und jetzt traut man sich nicht mal krank zu sein, weil das mit dem Arbeitsplatzverlust verbunden sein kann. Das nenne ich ein unsoziales System. Ich könnte das noch weiter vertiefen.

Jetzt zu Lohnpolitik und Export. Je nach dem, welches Wechselkurssystem Sie haben, ob stabile Wechselkurse oder flexible Wechselkurse, wenn es über das Lohnniveau läuft, haben sie entsprechende Bewegungen bei den Warenexporten und Warenimporten. Jede Lohnerhöhung, die nicht mit entsprechenden Produktivitätssteigerungen verbunden ist, schwächt die Wettbewerbsfähigkeit des Landes, mindert den Export, erhöht den Import. Das können Sie noch variieren, je nachdem, welches Wechselkurssystem sie zugrundelegen.

Die entscheidende Frage ist hier die Lohnleistung. Ich habe gesagt: Wir haben 3,7 Millionen Arbeitslose, weil unsere Tarifvertragsparteien wie Kartelle agieren und den Lohn über das Niveau setzen, das Vollbeschäftigung sichern würde. Warum hatten wir in Deutschland zwanzig Jahre lang - bis zum Jahre 1970 - ständig Vollbeschäftigung? Warum hatten wir im Jahre 1970 150,000 Arbeitssuchende und 700,000 offene Stellen? Weil wir hohe Wachstumsraten hatten und weil wir eine Lohnpolitik hatten, die das möglich gemacht hat. Jetzt haben wir eine Lohnpolitik, die das nicht mehr möglich macht. Wenn ich sage, wir müssen hier etwas tun, bedeutet das nicht, daß wir auf den Zustand Vietnams oder Rußlands zurückfallen müssen, also auf einen Dollar pro Tag. Es kommt vielmehr darauf an, daß bei uns wieder die Leistungsfähigkeit des Arbeitsplatzes und die Ansprüche an den Arbeitsplatz ins Lot kommen. Das ist die Aufgabe, die wir haben. Und das stelle ich mir nicht so vor, daß wir einfach 'Runter von den Löhnen' sagen, sondern daß bei uns Nachfrageschwankungen nicht mehr wie bisher zur Ausgrenzung der Schwachen und zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen. Seien wir doch ehrlich: Neun Zehntel von uns spürt doch die Rezession überhaupt nicht. Gehen Sie einmal in Reisebüros, schauen Sie sich an, was für Luxusgüter gekauft werden: Da haben Sie Wartefristen. Bei uns leidet doch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, weil er ausgegrenzt wird und jetzt im Lohn heruntersinkt von 100 auf 68 Prozent. Genau das will ich ändern. Was ich machen möchte ist, daß wir Schwankungen der Arbeitsnachfrage nicht mehr über die Schwachen erledigen, sondern, daß wir alle daran beteiligt werden, indem wir einen 'atmenden' Lohn nehmen. Schwankungen am Arbeitsmarkt werden dann über diesen Lohn austariert. Nehmen wir einen Sockellohn von 80 Prozent und der Rest sei abhängig von der Gewinnentwicklung. Dann können wir auch schwache Zeiten überstehen, weil Nachfrageschwankungen über den Lohn ausgependelt werden.

Zur Umwelt. Umwelt ist ein Gut. Ein schöner Wald ist ein Gut. Die Entschwefelung des Himmels ist ein Gut, das uns allen nützt, also ein Kollektivgut, das wir gemeinsam finanzieren müssen. Es ist kein Problem, dieses Gut zu finanzieren. Dafür gibt es genügend Methoden, sei es über Gebote und Verbote, über eine Steuer- oder eine Abgabenlösung, sei es über den Preis, über Glockenlösung, über Bubble-Lösung usw. Das ist alles bekannt. Warum tut man es nicht so, wie wir es für nötig erachten? Zwar liegt Deutschland mit Österreich mit Abstand an der Spitze aller Staaten, die Umweltschutz betreiben. Den Rhein konnten Sie vor zwanzig Jahren nicht riechen, weil er so stank. Man kann noch nicht drin schwimmen, aber die Leute fischen inzwischen schon wieder Fische aus dem Rhein. Auch im Main gibt es wieder 25 Sorten Fische. Das ist schon etwas, aber warum wird immer noch so vergleichsweise wenig gemacht? Weil Umweltschutz Geld kostet. Sie können das als Investitionstätigkeit interpretieren. Und das bedeutet, daß wir in der Zeit umverteilen müssen. Es bedeutet, daß wir auf Gegenwartskonsum verzichten müssen, um das Gut Umwelt zu produzieren. Und das möchte man den Leuten nicht so sehr zumuten. Die Frage ist also nicht, ob man das machen kann, sondern ob man es politisch will.

Rudolf Hickel:

Ich finde eines intellektuell faszinierend. Dadurch, daß sie durch die Art der Fragen die Möglichkeit hatten, fast alle Themen der Nationalökonomie, die miteinander zusammenhängen, hier zu diskutieren, haben sie auch die Möglichkeit gehabt zu zeigen, daß ihr Grundmechanismus zur Lösung aber auch aller Probleme anwendbar ist. Ich habe da tiefe Skepsis. Deshalb will ich etwas dazu sagen.

Erstens zur sozialen Sicherung. Wir reden hier von sozialer Marktwirtschaft und wissen zum Teil nicht, was wir meinen. Wir meinen im Prinzip eine Marktwirtschaft mit weniger Sozialheit. Sie werden überrascht sein: Wenn ich das Kapitel Ordnungspolitik in der Grundvorlesung behandle, bitte ich die Studenten, den Grundartikel "Soziale Marktwirtschaft" von Müller-Armack aus dem Handwörterbuch der Sozialwissenschaften von damals zu lesen. Ich finde diese Theorie faszinierend. Es ist eine sehr explizite Deutlichmachung folgenden Zusammenhangs. Müller-Armack hat gesagt, das Wirtschaftssystem, unser Wettbewerbs-Konkurrenz-System auf der Basis des unternehmerischen Investitionsmonopols, ist mit hohen sozialen Risiken verbunden, die der Betroffene zum einen nicht verursacht, zum anderen nicht alleine verarbeiten kann. Aus dieser Theorie der Produktion von sozialen Risiken leiten wir die Notwendigkeit sozialer Sicherungsysteme ab. Ich glaube, daß wir über das, was die Kaisererlasse Ende des letzten Jahrhunderts unter dem Druck Bismarckscher Sozialpolitik zustande gebracht haben, heute sehr schnodderig diskutieren. Ich sage es nun am Beispiel der Arbeitslosenversicherung. Natürlich dominiert bei Ihnen auch das Bild, das letztlich doch, der der arbeitslos wird, irgendwo Schuld daran hat und darum auch ein Stück der Kosten mitzutragen hat. Ich kenne beispielsweise die Auseinandersetzung Dasa - Lemwerder. Das sind insgesamt 2000 hochqualifizierte Arbeitsplätze bedroht. Und die Wahrscheinlichkeit, daß das alles den Bach heruntergeht ist mittlerweile, seit gestern Abend, sehr hoch. Wollen Sie denn wirklich der Öffentlichkeit klar machen, daß das Verhalten dieser hochqualifizierten Beschäftigten dazu beigetragen hat, daß sie ihren Arbeitsplatz verlieren? Und wollen Sie denen das soziale Risiko aufbürden? Ich denke, gerade in der jetzigen Situation müssen wir uns an die Basis sozialer Stabilität erinnern, um den Strukturwandel zu bewältigen. Und dazu tragen die sozialen Sicherungssysteme bei, und jede Polemik über das System ist sinnlos. Im übrigen bin ich der Meinung, daß wir in der Bundesrepublik keine Sparpolitik unter Vernachlässigung aller Bedarfsprobleme brauchen. Ist denn hier jemand im Saal, der weiß, was ein Arbeitsloser im dritten Jahr an Arbeitslosenhilfe bekommt? Wenn wir die Zahl auf den Tisch legen, reden wir mal ein bißchen ernsthafter über die Probleme, die da entstanden sind.

Zum Begriff Niedriglohnland will ich mich kurz fassen. Es ist die häßliche Ironie des zusammengebrochenen Sozialismus, daß er uns eine Öffnung gebracht hat, die plötzlich die separierte Entwicklung Deutschlands nicht mehr zuläßt. Das heißt wir haben Niedriglohnland-Konkurrenz in stärkster Form, etwa in Tschechien oder Polen oder auch woanders. Es hat überhaupt keinen Sinn - und das war auch meine Kritik an diesen unseligen Äußerungen von Oskar Lafontaine zur Lohnpolitik in Ostdeutschland - daß sich die Bundesrepublik wirtschaftsstrategisch daran ausrichtet, hinter den Niedriglohnländern herzurennen. Wir müssen im Gegenteil eine Strategie entwickeln, mit der wir Hochlohnland bleiben könen, und das heißt natürlich vor allem auch Technologieförderung. Wir müssen uns darauf einstellen, daß lohnmäßig billigere Produktion hier nicht mehr stattfindet, sondern daß wir uns auf know-how-Produktion, auf Blue-Print-Production und ähnliches konzentrieren. Das ist die Strategie und dazu brauchen sie Forschung und Technologie und keinen Abbau.

Zur Umwelt. Umwelt ist ja kein 'good', sondern ein 'bad good', weil wir wissen, daß die Umwelt belastet ist, aber ich will jetzt gar nicht auf ihre Erklärung eingehen. Das entscheidene ist, daß wir einen Grundsatz begreifen müssen und auch unter der herrschenden hohen Arbeitslosigkeit nicht ad acta legen dürfen: Es darf keine Beschäftigungspolitik mehr geben, die die Umwelt belastet. Und meine Sorge ist - übrigens bis tief in die Gewerkschaften hinein -, daß der disziplinierende Druck der Arbeitslosigkeit plötzlich dazu führt, daß die begonnene Konversion aus umweltbelastender in ökologisch verträgliche Produktion wieder gestoppt wird. Wenn Sie sich die dual-use-Debatte über Rüstungsexporte aus den letzten Tagen anschauen, dann sehen Sie es im Bereich der Rüstung, daß wir schon einmal weiter waren und gesagt haben, hier muß konvertiert werden. Aber unter dem Druck der Arbeitlosigkeit soll jetzt alles wieder rückgängig gemacht werden. Wir brauchen ein Konversionsprogramm unter ökologischen und anderen Gesichtspunkten.

Zur Gerechtigkeitslücke: Ich kann Ihnen genau erklären, wie ich die Gerechtigkeitslücke feststelle. Es ist empirisch relativ primitiv. Ich erkläre es primitiv, andere erklären es gar nicht und wieder andere verdrängen es. Ich habe es gemacht wie das rheinisch-westfälische Institut und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Ich habe in der Einkommens-Verbraucher-Stichprobe die Einkommensverteilung vor und nach der Einheitsfinanzierung angesehen und festgestellt, daß es Verteilungseffekte gibt. Und den Vergleich zwischen 'jetzt' und 'status quo ante' bezeichne ich als Gerechtigkeitslücke.

Schließlich als vorletzte Bemerkung zur Frage mit dem realen Kapitalmarktzins von einem Prozent. Sie hätten vielleicht dem werten Zuhörerpublikum sagen sollen, mit was Sie deflationiert haben: Sie haben - hoffentlich - mit den Erzeugerpreisen deflationiert. Alles andere ist Unsinn, weil der Konsumpreisindex für die Investitionsentscheidung im Rahmen der Realinvestition als Opportunitätsentscheidung irrelevant ist. Aber das ist doch nicht das Problem. Entscheidend ist die Zinspolitik, also die Zinssätze, die die Bundesbank managen kann. Das sind die Refinanzierungskosten der Bank und die bestimmen die Kosten der Kreditfinanzierung. Und da gibt es das Problem, daß in einer Phase, in der die Konjunktur zurückgegangen ist, in der der mittelständische Unternehmer in die Fremdfinanzierung gehen mußten, um zu überleben, daß genau in dieser Phase, im Juni 1992, die Bundesbank die Zinsen - also die Refinanzierungskosten - hochgesetzt hat und damit dazu beigetragen hat, daß die Rezession vertieft wird.

Eine letzte Bemerkung zum Chemie-Abschluß: Hier werden die beschäftigungspolitischen Versprechungen nach meiner Einschätzung nicht aufgehen, denn in der chemischen Industrie gibt es schon einen hohen Satz von qualifizierten Arbeitslosen. Und der Sinn des Tarifvertrages ist nicht, irgendwelche Wildfremden einzustellen, sondern die, die arbeitslos geworden sind, wieder hereinzuschleusen und damit qualifizierten Leuten weniger zu bezahlen.

Leider tut sich die Bundesrepublik in der Anpassung an das Paradigma der Clinton-Administration schwerer als in der Anpassung an die Reagonomics. In Amerika sind sie in der Debatte über Arbeitmärkte verzweifelt über die Art, wie wir sozialmarktwirtschaftliche Strategen dabei sind, unser System der sozialen Stabilisierung über das Tarifsystem kaputtzumachen. Die Amerikaner haben gemerkt, daß mit 'hire and fire', daß mit einem 'two-tire-wage-system' - d.h., daß an ein und denselben Arbeitsplatz bei gleicher Qualifikation unterschiedliche Löhne bezahlt werden - enorme Produktivitätsprobleme entstehen.

Lesen Sie die neueren Lohn-Effizienz-Theorien nach: Wenn Sie eine Banane kaufen, dann können sie den Vorteil der Banane schnurstracks internalisieren, indem Sie sie essen. Wenn der Unternehmer eine Arbeitskraft kauft, dann hat er das Potential der Arbeit, und deshalb stimmt der Vergleich mit den Hula-Hoop-Reifen und Bahnfahrkarten nicht. Er hat deshalb noch keine Motivation. Soziale Sicherungssysteme, Mindeststandards an Arbeitsbedingungen, Mindesstandards an Entlohnung, einigermaßen ausgeglichene Entlohnungsbedingungen sind eine Voraussetzung dafür, daß die eingekaufte Arbeitskraft auch motivational etwas zustande bringt.

Es hat bei der Deregulierungskommission in Bonn eine Anhörung gegeben. Bei dieser Diskussion gab es vom Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände ein Papier, über das ich den Gewerkschaftlern vom DGB gesagt habe: Diese Begründung der ökonomischen Effizienz unseres derzeitigen Tarifsystems, habt ihr noch nie so gut geschrieben. Übernehmt diese Formulierung des BDA in euer Grundsatzprogramm. Der BDA hatte geschrieben, daß das Lohnsystem im Suchprozeß und bei der Realisierung von Arbeitskraftmotivation eine enorme Produktivitätsressource ist. Deshalb wenden wir uns gegen Deregulierung im Sinne auch des Transaktionskostenansatzes und vielem anderen.

Ich sage zum Schluß: Wir haben es in Ost und West mit einer schweren Krise zu tun, und wir brauchen in dieser Situation einigermaßen stabile soziale Bedingungen der Organisation unserer Arbeitsbeziehungen, die zugleich auch effizienz- und produktivitätssteigernd sind. Wenn wir die jetzt weiter deregulieren, zu deutsch: zerschlagen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir als Industriestandort immer mehr an Relevanz in der Welt verlieren.

Joachim Starbatty:

Sie haben eben von der eingekauften Arbeitskraft gesprochen und damit haben Sie gesagt, daß es einen Lohn für Arbeit gibt, die man einkaufen kann. Ich hätte mich nicht so hart ausgedrückt wie Sie es getan hat, aber, wenn Sie das sagen, akzeptieren Sie, daß der Unternehmer Erlösströme, Güterströme miteinander vergleicht und dann entsprechend Leute einstellt, und genau das sage ich. Und ich sage, daß die Bedingungen bei unserem Arbeitsmarkt falsch strukturiert sind, daß sie Arbeitslosigkeit produzieren. Ich habe nie gesagt, daß ein Arbeitsloser Schuld an seiner Arbeitslosigkeit sei. Sie haben das einfach hier eingeführt. Man könnte annehmen, daß ich das vielleicht gesagt hätte. Ich sage: Das Gegenteil ist der Fall. Wir machen mit unserem System Leute zu Arbeitslosen, die es nicht sein wollen. Das ist die Tatsache. Und mit Ihrem System, alles so zu lassen, wie es ist, und bei den Löhnen noch kräftig aufzuschlagen und die Unternehmer dafür zu beschimpfen, daß sie zuwenig investieren, werden wir bald auf acht Millionen Arbeitlose kommen. Dann ist das Horrorszenario von Berger nicht mehr länger unseriös, sondern Realität.

Ich sage auch nicht, wir sollen die Sozialsysteme abschaffen. Ich sage, wir sollen sie sichern, indem wir sie umbauen. Wir sind jetzt schon bei einer Belastung des Duchschnittseinkommens von fünfzig Prozent für Steuern und Abgaben. Wenn wir die Sätze weiterhin einfach immer heraufsetzen, dann laufen wir gegen die Wand. Wir haben jetzt die Zeit, das System zu ändern. Leute, die sich darüber Gedanken machen, mit solchen zu vergleichen, die sie abschaffen wollen, ist das falscheste, was man machen kann.

Als das Kündigungsschutzgesetz verabschiedet wurde, war ich wissenschaftlicher Berater einer großen Fraktion. Ich habe damals den Leuten gesagt: Es ist sehr kritisch, was ihr da macht, denn Kündigungsschutz bedeutet, daß nachher Leute nicht mehr eingestellt werden, wenn sie Arbeit suchen, weil die Risiken der Arbeitseinstellung zu hoch sind. Da haben mir unsere Mitglieder des Sozialausschusses gesagt: Was wollen Sie denn? Bei 150.000 Arbeitslosen und 700.000 Stellen ist das bloß ein theoretisches Problem, was Sie hier an die Wand malen. Jetzt ist es kein theoretisches Problem mehr.

Oder z.B. Sozialplantatbestände. Ich finde das sehr honorig, daß das gemacht wird. Aber sich vorzustellen, daß in schwierigen Situationen Unternehmungen nicht nur Kapital aufbringen für Umstrukturierungen, sondern auch für Sozialplantatbestände, ist in einer Wirtschaft, in der es darauf ankommt, Arbeitsplätze zu sichern, geradezu tödlich. Es haben einige Leute, die etwas machen wollten, diese Ideen in ein Gesetz hineingeschrieben und es dann im Bundestag eingebracht. Ich habe gefragt: "Warum macht ihr das denn? Ihr wißt doch, daß das eine Dynamik hat." "Ach", sagte man mir, "das glaubst du doch selber nicht. Die Privaten machen es doch. Warum sollen wir das nicht in ein Gesetz hineinschreiben?" Einige Private haben es gemacht, weil sie einige Leute absichern wollen. Aber wenn sie das in ein Gesetz hineingießen, dann lösen sie eine Anspruchsdynamik aus, die sie gar nicht mehr kontrolieren können. Das ist zur Zeit das Problem und da muß man überlegen, wie man das Sozialsystem so organisiert, daß es wieder Arbeitsplätze schafft und nicht Arbeitsplätze vernichtet.

Jetzt zu Forschung und Technologie. Das bedeutet doch, Geld an Großindustrie zu geben, die die entsprechende Lobby dafür hat, diese Programme vorzubereiten. Ich sage das jetzt ganz verkürzt, weil ich zehn Jahre darüber geforscht habe. Wenn der Staat Geld für Forschungen ausgibt, die die Unternehmungen sowieso machen wollen, ist das herausgeworfenes Geld. Schauen Sie sich die anderen Sachen an, die mittelstandsbezogen sind: Die führen gerade dazu, daß die Leute sich korrumpieren lassen. Viele gehen dann zum Steuerberater und sagen: "Schreib' mir doch mal auf, daß meine Leute in der Forschung beschäftigt sind, dann kriege ich auch Gelder aus der Forschungsabteilung." So sieht die Praxis der Forschungsförderung aus.

Wir werden nur wieder zu mehr Produktivität kommen, wenn wir die Rahmenbedinungen anders setzen und die Rahmenbedingungen sind - und da bin ich mit Herrn Hickel überkreuz: Mehr Deregulierung, mehr Verantwortung des Einzelnen, weniger anonyme soziale Sicherungssysteme, gezielte Maßnahmen, Geldwertstabilität, freier Handel, niedrige Steuern. Dann werde wieder Arbeitsplätze entstehen.

Rudolf Hickel:

Ich habe in den siebziger Jahren an einer von der Ludwig-Erhard-Stiftung organisierten Diskussion teilgenommen, die sich mit der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigte. Da hat Wolfgang Stützel ein Referat gehalten, ein von mir sehr geschätzter, viel zu früh verstorbener Kollege, der früher hier an der Universität Tübingen war und der in den fünfziger Jahren eine wirklich bahnbrechende Arbeit über Staat und Wirtschaft geschrieben hat. Stützel sagte damals, und das habe ich eigentlich gemeint: In der Theorie von Müller-Armack über Soziale Marktwirtschaft gab es Klarheit über das, was Markt ist, was Markt leistet und was Markt an Problemen produziert. Aber wir haben über die Jahre hinweg die Beschreibung dessen, was eigentlich das Soziale an der Marktwirtschaft ist, verloren. Oder wie er es formuliert hat: Das zweite Bein ist unsicher geworden. Genau das wollte ich sagen. Vielleicht hätte Müller-Armack, wenn er heute leben würde, die Mutation seiner Theorie bis zum heutigen Stand mitgemacht. Das ist eine Spekulation. Aber eines ist klar: Die ganzen Deregulierungen der Sozialsysteme in Richtung der Privatisierung der Verarbeitung von sozialen Risiken ist demgegenüber nicht angemessen, was solche Wirtschaftssysteme an Risiken produzieren.

Und jetzt schließlich noch eine Bemerkung zu meinen geschätzten Freund Dieter Spoeri. Ich habe das Papier natürlich auch gelesen und viel mit ihm diskutiert. Mein Freund Dieter Spoeri hat - ich weiß nicht ob wegen oder trotz seiner Ausbildung der Wirtschaftswissenschaften in Tübingen - etwas sehr Vernünftiges gesagt. Er hat dasselbe gesagt, was mir vor ein paar Wochen zu später Stunde Lothar Späth gesagt hat. Ich sagte zu Späth: "Sie waren ja ein Glücksritter. Sie haben die Prosperität des baden-württembergischen Landes voll genossen. Ein bißchen Stamokap, 'Späth'-Kapitalismus, der Staat managed..., aber es hat prima funktioniert. Aber Sie haben eigentlich - und schon vor fünf Jahren kam vom IMU-Institut aus München die erste Untersuchung, daß es Probleme gaben kann - den Strukturwandel nicht vorbereitet und den kann die Wirtschaft aus eigener Kraft nicht bewältigen." Da hat er mich eines besseren belehrt und hat gesagt: Das stimmt nicht. Ich habe mir in meinem letzten Buch natürlich die Frage gestellt, wie muß eigentlich so ein Strukturwandel aussehen? Und diese Frage, die Lothar Späth gestellt hat und die Spoeri jetzt versucht, mit Ach und Krach zu beantworten, ist die entscheidende Frage.

Für mich ist die wichtigste Frage: Wie kriegen wir wieder - und da stimme ich Herrn Starbatty zu - einigermaßen vernünftige Beschäftigungsverhältnisse? Sie merken terminologisch, ich spreche nicht von Vollbeschäftigung, weil ich das mittlerweile sogar für illusionär halte. Nehmen Sie einmal die Prognos-Modelle und rechnen das unter bestimmten Annahmen durch: Vollbeschäftigung wird sehr schwierig werden. Aber vernünftige Beschäftigungsverhältnisse sind schon ein lohnendes Ziel. Und das Dilemma, in dem wir uns heute befinden, ist die alte Frage von Hannah Arendt: Geht der Gesellschaft die Arbeit aus? Das zeigt sich zur Zeit in der Bundesrepublik ganz dramatisch. Es ist bei uns lange aufgeschoben worden, weil wir einen international vergleichsweise hohen industrialisierten Sektor haben. Heute aber brauchen wir in der industriellen Produktion im weitesten Sinne immer weniger Arbeit, weil wir die Zuwächse über wachsende Produktivität erledigen können. Das ist auch gut so. Aber - und das ist bei Diskussionen in den Gewerkschaften immer das Dilemma: Lohnzuwächse sind bei Produktivitätssteigerungen leichter, aber der Preis, den die Gewerkschaften für die produktivitätsorientierte Lohnpolitik zahlen, ist der Rückgang der Beschäftigung. Das ist in den Gewerkschaften viel diskutiert aber nicht gelöst.

Wassily Leontief hat unter dem Stichwort der technischen Arbeitslosigkeit gesagt: Es ist sinnvoll, daß im Produktionsbereich die Produktivität steigt und die Arbeit zurückgeht. Es ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Wir wissen, daß es genügend gesellschaftlich wichtige Felder der Arbeit gibt, z.B. im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich, aber die Mechanismen, die wir haben, diese Umsteuerung zu bewältigen, reichen nicht aus. Und das scheint mir das zentrale Problem zu sein: Wie kriegen wir es hin, daß wir den Segen des Rückgangs von Beschäftigung in den klassischen industriellen Produktionsbereichen nicht zum Fluch im Sinne der Arbeitlosigkeit machen und gleichzeitig die vorhandenen gesellschaftlich wichtigen Felder besetzen?

Es gibt da Ansätze, bei denen könnten wir aus der ostdeutschen Entwicklung für Westdeutschland ausnahmsweise einmal etwas lernen: Die dortigen Versuche, etwa in Brandenburg oder auch in Sachsen, einen zweiten Arbeitsmarkt aufzubauen, das heißt für die Gesellschaft produktive Arbeit möglich zu machen in Bereichen, die auch für die Industrie wichtig sind, die sie aber selber nicht generiert, sind beschäftigungspolitisch richtige Ansätze.

Mit Parolen von der ewigen Überlebensfähigkeit und von der historisch ehernen Lösungsqualität von Marktwirtschaften dagegen werden wir das Problem nicht lösen.

Herta Däubler-Gmelin:

Dank an Herrn Hickel und Herrn Starbatty, daß sie sich an dieser sehr streitigen Diskussion beteiligt haben. Ich hätte zu gerne ein gemeinsames Seminar von Herrn Starbatty und von Herrn Hickel in Bremen und Tübingen - jetzt, wenn es an konkrete Problemlösungen geht. Ich hätte zu gerne, daß der Streit, der heute abend mehr zur Begründung der unterschiedlichen Positionen als zur Formulierung von gemeinsam vertretenen Lösungen geführt hat, weitergeht.
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Letzte Änderung: 05.01.2002