AK Solidarität Jetzt! | Fritz-Erler-Akademie | SPD-Ortsverein Tübingen |
Standort Deutschland -
Wie sichern wir Arbeit, Wirtschaft
und Umwelt?
Ein Streitgespräch
Prof.
Dr. Rudolf Hickel (Prof. für Wirtschaftswissenschaften, Universität Bremen) |
Prof. Dr.
Joachim Starbatty (Prof. für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftspolitik, Universität Tübingen) |
Moderiert von Prof. Dr.
Herta Däubler-Gmelin
MdB, Stellv. Vorsitzende der SPD
Die Veranstaltung fand am 12. Januar 1994 in der Universität Tübingen statt.
Vorwort des Arbeitskreises Solidarität Jetzt! | Vorwort der Fritz-Erler-Akademie Freudenstadt |
Eine renommierte Unternehmensberatungsfirma rechnet 1995 mit
Arbeitslosenzahlen zwischen acht und zehn Millionen Menschen. Natürlich werden
da Entlassene, die in ABM-Maßnahmen und Kurzarbeit Befindlichen und die stille
Reserve, d.h. hauptsächlich die Frauen, die gerne erwerbstätig wären, sich aber
entmutigt von Arbeitsmarkt zurückziehen, zusammengefaßt.
Sie können weiterhin lesen, daß junge Leute, die von den Universitäten
kommen, weder beim Staat noch in der Wirtschaft eine Chance haben. Sie können
lesen, daß die großen Firmen bewährte 'mittelalterliche' Manager entlassen. Sie
können lesen, daß heutzutage für Abfindungen von Managern und Sozialpläne für
Angestellte und Arbeiter mehr Geld ausgegeben wird als für die Entwicklung neuer
Produkte. Sie können lesen, daß gerade unsere Automobilbranche erheblich ins
Schwimmen kommt. Sie können lesen, daß es verzweifelte Rettungsversuche für die
Metallgesellschaft gibt, daß im Osten Deutschlands von einer Industriebrache
geredet wird. Und, und, und...
Alles dieses können Sie genauso lesen, wie wir alle. Anlaß zu fragen. Aber
sie können noch mehr lesen, nämlich eine Unmenge von Vorschlägen, von Kritik,
von Zustandsbeschreibungen, von Forderungen an den Staat oder an Verbände. Vor
allem lesen Sie ganz unterschiedliche Forderungen und Zustandsbeschreibungen.
Unsere beiden Diskutanten heute abend, Prof. Hickel und Prof. Starbatty, haben
sich sowohl an Zustandsbeschreibungen als auch an der Analyse, vor allen Dingen
aber auch an der Formulierung von pointierten Forderungen beteiligt.
Ein erster Punkt, den ich ganz kurz ansprechen will: Wir haben mit der
deutschen Einigung - durch die Art auch des Managements der Einigung - mit dem
Blitzstart der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland per Schock eine
katastrophale Entwicklung ausgelöst. Wenn gestern das statistische Bundesamt
mitteilt, daß das Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland um 6,3 Prozent
gestiegen sei, dann dürfen Sie sich nicht nach dem Motto irritieren lassen:
Jetzt ist er da, der vielbeschworene, um alle Ecken immer lugende Aufschwung. Es
handelt sich um eine tiefgreifende Transformationskrise, die noch viele Jahre in
Anspruch nehmen wird. Und bedauerlicherweise muß man sagen, daß die gnadenlose
Naivität, mit der die Wirtschafts- und Finanzpolitik diesen Prozeß der deutschen
Einigung zu steuern versucht hat, dazu geführt hat, daß die
Transformationsprobleme, vor allem der Zusammenbruch der Industrie, viel weiter
vorangeschritten sind, als nötig war. Ich spreche hier aus Erfahrung und ich
wiederhole einen Satz, vielleicht an dieser Stelle provokant: Herr Starbatty und
ich haben vor einem handverlesenen Publikum vor einigen Monaten in Leipzig über
die Frage diskutiert: Wie geht es ökonomisch weiter? Und eine meiner tiefsten
und aufrichtigsten Empfehlungen an alle, die sich an diesem Aufbau beteiligen,
war: Vergessen Sie bitte fünf Jahre lang alle Lehrbücher zur sozialen
Marktwirtschaft, weil Sie sonst Gefahr laufen, schwerwiegende Fehler zu machen.
Wir haben es mit einer Situation zu tun, die - vielleicht auch erfreulicherweise
- nicht im Lehrbuch vorkommt. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß dieser
Produktionsstandort stabilisiert wird. Das wird aber noch sehr lange dauern. Ich
kann später noch auf Details eingehen.
Vor allem aber hat sich die Lage in dem neuen Deutschland verändert, weil
Westdeutschland nach dem kurzfristigen Einigungsboom seit Mitte 1992 in eine
tiefe konjunkturelle Krise geraten ist, die Rückwirkungen auf Ostdeutschland
hat. Ich selbst war in Sachsen als Schlichter der Metallindustrie tätig und
mache mich anheischig zu behaupten, daß ich die Situation gut kenne.
In Westdeutschland vollzieht sich eine tiefgreifende Rezession. In dieser
Rezession werden strukturelle Probleme deutlich. So steht z.B. die Prosperität
Baden-Württembergs etwa im Bereich der Maschinen- und Elektronikindustrie auf
der Kippe. Wir müssen uns dringend diesen Herausforderungen stellen.
Erstens: Wir müssen damit aufhören, wenn wir nach den Ursachen der Krise
suchen, diese dort zu suchen, wo sie nicht erzeugt worden sind, nämlich in der
Lohnpolitik.
Zweitens: Wir müssen endlich damit aufhören, die Opfer der Krise, die
Arbeitslosen, schnurstracks zu den Tätern zu erklären und deshalb eine Politik
des radikalen Sozialabbaus durchzusetzen.
Drittens: Die Geldpolitik. Die Bundesbankpolitik, die sozusagen im
Spannungsfeld des monetären Managements der deutschen Einigung einerseits und
der europäischen Integration andererseits gestanden hat, hat sich mit einer
falsch erklärten Inflationsentwicklung, auf das nationalistische Ziel der
binnenwirtschaftlichen Konsolidierung konzentriert. Sie hat mit ihrer
Hochzinspolitik drei schwerwiegende Fehler begangen: Erstens hat sie mit dazu
beigetragen, daß es zur wirtschaftlichen Rezession kam. Genau in der Phase des
Abschwungs hat die Bundesbank ihre Politik verschärft. Zweitens hat sie den
Aufbau in Ostdeutschland durch eine Zinsverteuerung unnötig erschwert und
drittens hat ihre Politik schließlich auch zur Krise des Europäischen
Währungssystems geführt.
Viertens: Ich glaube, und ich sage dies sehr bewußt, daß die Finanzpolitik,
die zur Zeit gefahren wird - die sozusagen eine Strategie des 'muddling through'
ist, des Durchwurstelns mit allen Konsequenzen - immer mehr dazu neigt, dem
Muster der Weimarer Republik gegen Ende der Weimarer Republik zu folgen. Etwas
langsamer in der Durchsetzung befinden auch wir uns in einem Prozeß, in dem die
Politik selbst die wirtschaftlichen Entwicklungsbedingungen verschlechtert.
Als letztes: Wir reden ständig über die, die von der Krise betroffen sind,
als diejenigen, die die Krise verursachen. Wir müssen endlich auch über eine
Industriepolitik reden, wo die im Rampenlicht stehen, die wirklich die
Entscheidungen treffen, die Unternehmer, das Management. Das Beispiel des
Versagens des Managements übrigens eines promovierten Absolventen dieser
Universität - des Herrn Dr. Schimmelbusch - zeigt, daß wir dringend auch einmal
darüber reden müssen, inwieweit die, die Einfluß auf die wirtschaftliche
Entwicklung haben, ihren Anforderungen gerecht werden.
Das sind die Herausforderungen, die ich kurz versucht habe, darzustellen. Ein
letzter Satz zu meiner Zunft, zu der Zunft, die auch Herr Starbatty vertritt.
Nehmen Sie nur beispielhaft das jüngste Jahresgutachten des Sachverständigenrats
von 1993. Lesen Sie die Diagnose, lesen Sie die Empfehlungen zu den einzelnen
Politikfeldern; ich bitte Sie dringend das zu tun, weil Sie eine bittere
Erfahrung machen werden: Der gesetzlich verordnete Sachverstand war seit 1963
noch nie in einer solch hilflosen Situation, wenn es galt, die
Hauptherausforderung, das Geschwür dieser Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit, zu
bekämpfen. Wir brauchen auch wieder Impulse durch eine attraktive,
problemorientierte Wirtschaftswissenschaft, die sich nicht damit begügt,
Glasperlenspiele zu wiederholen, sondern die versucht, zu Problemlösungen
beizutragen. Davon ist die Mehrheit der Mitglieder meiner Zunft Kilometer, wenn
Sie so wollen, Lichtjahre entfernt.
Jetzt will ich - wie gutes Rednertum es vorschreibt - gute und schlechte
Nachrichten einander abwechseln lassen. Ich beginne jeweils mit der guten
Nachricht.
Ich sehe im Standort Deutschland keinen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft,
Arbeitsplätzen und Umweltschutz. Wenn wir eine starke, also investierende
Wirtschaft haben, dann werden wir auch Arbeitsplätze haben und dann werden wir
auch etwas für den Umweltschutz tun können. Die schlechte Nachricht ist: In den
Programmen aller Parteien ist zu sehen, daß diese Parteien glauben, Arbeit
dadurch schaffen zu können, daß sie Geld umschaufeln oder die Arbeitszeit
verkürzen oder andere Verteilungsexperimente versuchen. Damit aber werden wir
den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen, denn wir haben in unserem Lande
nur eine einzige Ressource: unsere Arbeitskraft. Sonst haben wir nichts. Wenn
wir diese Arbeitskraft einfach über Umverteilung in unproduktive Verwendungen
lenken oder sie künstlich einsperren, werden wir nur konkurrenzunfähiger werden
und weder produktive Arbeitsplätze schaffen noch den notwendigen Umweltschutz
realisieren können.
Zweite günstige Nachricht: Ein Land braucht, um Vollbeschäftigung zu sichern,
Kapitalbildung, denn Kapitalbildung ist die Grundlage jedes Arbeitsplatzes. Nur
wenn investiert wird und wenn Arbeitsplätze geschaffen werden, können
Arbeitslose wieder von der Straße geholt werden. Und wir sind eines der
kapitalreichsten Länder auf dieser Welt. Aber was tun wir? Zur Zeit reicht die
Nettokapitalbildung Deutschlands gerade aus, um die Verschuldung aller Haushalte
zu finanzieren und das bedeutet, daß wir Ressourcen aus dem produktiven Bereich
aufsaugen und in den unproduktiven Bereich - den Sozialkonsum - hineinlenken.
Das wird dazu führen, daß wir immer weniger produktive Arbeitsplätze haben
werden aufgrund der Tatsache, daß der Staat eben die Mittel absorbiert, die für
die Investitiontätigkeit erforderlich wären.
Dritte Meldung: Man kann sagen, im OECD-Bereich gehören wir in Punkto
Arbeitslosigkeit noch zu den Schlußlichtern, was die Ziffern angeht. Man könnte
noch weiter sagen: Es gibt Inseln, auf denen es keine Arbeitslosigkeit gibt.
Wenn beispielsweise in den neuen Bundesländern Bauarbeiter aus der Türkei und
England eingeflogen werden müssen, könnte man sagen, es gibt keine generelle
Arbeitslosigkeit. Aber für unsere Verhältnisse haben wir eine sehr, sehr hohe
Arbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit ist ein sehr ernstes Problem, das man
nicht klein reden kann, weil derjenige, der Arbeit verliert, nicht nur einen
Teil seines Einkommens, sondern auch einen Teil seines Seins verliert, denn der
Mensch realisiert sich eben auch durch Arbeit. Wir haben bald - womöglich noch
in diesem Jahr - vier Millionen Arbeitslose. (Ich will nicht an die
Horrorszenarios denken, die Herr Berger aufgesetzt hat. Man kann nicht die
Konjunkturentwicklung der nächsten drei Jahre bestimmen. Das ist nur
Sensationsmache, das ist einfach nicht seriös.)
Wenn wir vier Millionen Arbeitslose haben, dann hängt das natürlich auch mit
den Akteuren zusammen. Wir haben einen Arbeitsmarkt, auf dem Leistungen
getauscht werden: Da wird Lohn gezahlt und dagegen wird eine Arbeitsleistung
eingetauscht und diese Arbeitleistung können sie z.B. in Geldeinheiten oder in
Sacheinheiten ausdrücken, d.h. der Arbeitsmarkt ist ein Tausch von
Leistungsströmen. Und wenn wir vier Millionen Arbeitslose haben, dann kann ich
nur sagen: Offensichtlich passen hier die Leistungsströme nicht mehr zusammen.
Das ist die Grundidee. Da bin ich eben ganz anderer Auffassung als Herr Hickel.
Ich bin der Auffassung, daß es einen Markt gibt und daß auf diesem Markt die
Preise - also die Löhne - bestimmen, und wenn diese Löhne falsch gesetzt sind,
gibt es natürlich Arbeitslosigkeit. Wir haben eine Situation, in der auf dem
Arbeitsmarkt Schwankungen von Angebot und Nachfrage nicht mehr über die Preise
austariert werden, sondern über die Mengen. Das bedeutet, daß diejenigen, die
sichere Arbeitsplätze haben, weiter diese sicheren Arbeitsplätze haben werden
und andere, die auf unsicheren Arbeitsplätzen sitzen, diese verlieren werden.
Das ist unsere Lohnpolitik zur Zeit und sie ist das Ergebnis der
Akteurskonstellation, die wir haben. Wir haben auf diesem Arbeitsmarkt eine
Marktform, die wir Kartell nennen können, denn es sind nur zwei
Arbeitsmarktparteien da: Auf der einen Seite die Gewerkschaften, auf der anderen
Seite die Arbeitgeberverbände. Jedes Kartell neigt dazu, den Preis über dem
Gleichgewichtspreis anzusetzen und die Konsequenz ist dann normalerweise, daß
die Nachfrage nach bestimmten Gütern, also die Nachfrage nach Arbeitskräften zu
gering ist und daß man anfängt - und genau das will Herr Hickel uns vorschlagen
- die Arbeit umzuverteilen. Das ist die Konsequenz einer falsch gepolten
Lohnpolitik.
Ein anderes Problem ist das Sozialsystem. Das Sozialsystem ist von gestern,
es ist zu teuer und es diskriminiert einzelne Gruppen unserer Gesellschaft.
Es ist deswegen von gestern, weil es in einer Zeit der Hochkonjunktur
geschaffen worden ist. Damals ging es nicht darum, wie man Arbeitsplätze
schafft, sondern wie man diejenigen, die auf Arbeitplätzen sitzen, schützen
kann. Jetzt kommt es darauf an, ein Sozialsystem zu errichten, das günstig ist
für die Leute, die Arbeitsplätze suchen. Deswegen ist unser System von gestern.
Ich will später gerne den Beweis dazu antreten.
Unser System ist außerdem zu teuer. Wir haben uns das System früher leisten
können, weil es sozialen Frieden brachte und wir keine Streiks hatten. Das
Ausland hat inzwischen gelernt, daß Streiks im eigenen Lande nicht die Löhne
erhöhen, sondern nur die Auftragsbücher deutscher Gesellschaften. In Frankreich
wird nicht mehr - oder kaum noch - gestreikt und in England wird überhaupt nicht
mehr gestreikt. Früher war das unsere größte Exportstütze. Aber die Engländer
produzieren jetzt das 'Gut' sozialer Friede billiger als wir, und wir hängen auf
den Kosten fest.
Unser System diskriminiert. Es diskriminiert diejenigen, die keine Arbeit
haben und Arbeit suchen, weil die Einstellungsbarrieren für Arbeiter aufgrund
der sozialen Verpflichtungen gestiegen sind. Es begünstigt diejenigen, die schon
etwas haben, und es diskriminiert diejenigen, die ausgegrenzt worden sind.
Schauen Sie sich an, was an den Bahnhöfen los ist. Das hat es vor zwanzig Jahren
nicht gegeben. Warum hat es das nicht gegeben? Warum gibt es das heute? Warum
werden immer mehr Menschen bei uns ausgegrenzt? Nicht weil wir zuwenig für
soziale Leistungen ausgeben würden, ein Drittel unseres Sozialprodukts wird für
Sozialleistungen ausgegeben. Warum also? Wir geben das Geld falsch aus, und das
müssen wir ändern.
Zweitens hat Herr Starbatty einen klassischen Satz der Nationalökonomie
formuliert, der historisch völlig überholt ist. Sie werden mit der noch so
aggressivsten und umweltbelastensten Politik einer privatwirtschaftlichen
Kapitalbildung über das Jahrtausend hinweg keine Vollbeschäftigung mehr
herstellen. Deshalb müssen sie über alternative Formen der Arbeit und der
Produktion nachdenken. Es hat keinen Sinn, angesichts der Erfahrungen,
angesichts des ständigen Wachsens des Sockels der Arbeitslosigkeit wie die
Papageien nach Samuelson den Grundsatz zu wiederholen: Vollbeschäftigung -
Kapitalbildung: Es funktioniert alles.
Drittens bin ich Ihnen wirklich dankbar, daß sie das Verursachungszentrum
Ihrer Sicht der Arbeitslosigkeit mit der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie
begründet haben. Ich sage aber ganz deutlich - und das ist eine wichtige Aussage
für die weitere Politik: Der Arbeitsmarkt ist kein Markt an dem Teppiche,
Bahnkarten oder irgendwelche Hula-Hoop-Reifen gehandelt werden. Da werden
Arbeitskräfte gehandelt, deren Lohnbildung zugleich Existenzsicherung ist, und
es besteht keine Gleichrangigkeit der Verhältnisse zwischen Arbeitsanbieter und
-nachfrager sondern Abhängigkeit. Ich kenne keinen Beschäfigten, der
Arbeitsplatzbesitzer ist, sondern er befindet sich in einem abhängigen
Beschäftigungsverhältnis und die übelste zugespitze Form der Abhängigkeit ist
die Tragik der Arbeitslosigkeit. Die Ursache der Arbeitslosigkeit auf den
Arbeitsmärkten zu erklären, lenkt davon ab, daß wir wirklich auf die Güter- und
Investitionsmärkte schauen müssen: Dort wird die Arbeitslosigkeit produziert.
Dann zur 'aggressiven Politik der Kapitalverwendung'. Sie haben da gesagt, es
wäre eine Spruch von Samuelson. Nun, wenn es ein Spruch von Samuelson war, dann
ist er doch nicht falsch. Es ist doch völlig klar, daß jeder Arbeitsplatz
zunächst Kapitalbildung voraussetzt. Ohne Investitionstätigkeit gibt es keine
Arbeitsplätze. Sie können das sozialistisch begründen oder marktwirtschaftlich,
das spielt gar keine Rolle. Das Entscheidende ist nun, wie rentabel die
Arbeitsplätze sind - und das hängt von den Zinsen ab und von den Kosten, die
anfallen. Und wenn Sie die relativen Preise auf den Märkten so setzen, daß es
für Unternehmer nicht mehr rentabel ist zu produzieren, weil Sie die
Arbeitsplätze nicht mehr finanzieren können, dann kriegen Sie Arbeitslosigkeit.
Was Sie zum Schluß zur Arbeitslosigkeit gesagt haben, hat sich zwar nett
angehört, aber es war ja kein theoretischer Satz dabei, der eine Begründung
gegeben hätte.
Das zweite, was ganz wichtig ist: Eines sollten wir als Regel der Diskussion
aufstellen: Wenn Ihnen an mir etwas nicht paßt, dann versuchen Sie nicht, mich
suggestiv als Vertreter eines verrotteten Dinosaurier-Sozialismus
abzuqualifizieren. Ich werde Sie dann auch nicht als einen extremen,
ultra-kapitalistischen Cheftheoretiker bezeichnen. Vielleicht machen wir das zur
Grundlage.
Das Entscheidende ist, daß wir wirklich einmal darüber reden müssen, wie wir
mit der Herausforderung fertig werden, daß die Bundesrepublik Deutschland die
bisherige Voraussetzung ihrer Verteilungspolitik zu verlieren droht. Die
Bundesrepublik Deutschland konnte bisher ein Hochlohnland sein, weil sie über
enorme Produktivitätszuwächse verfügt hat. Da scheint es jetzt Probleme zu
geben, aber diese Probleme kann man nicht schuldhaft der Lohnpolitik und den
Gewerkschaften zuweisen, sondern da muß man sich fragen, was eigentlich der
prosperierende, schwäbische, mittelständische und Groß-Unternehmer im
Maschinenbau in den letzten Jahren getan hat? Er ist z.T. im Produktzyklus auf
dem oberen Punkt sitzengeblieben und wurde - im Schumpeterschen Sinne - vom
dynamischen Wirt zum statischen Wirt, und jetzt haben wir eine Krise, die nun
diejenigen ausbaden sollen, die von der Krise betroffen sind, nämlich die
Beschäftigten.
Letzte Bemerkung: Eines haben Sie bei Ihrer These vergessen. Wenn Sie
zwischen Vollbeschäftigung und Kapitalbildung ein direktes Glied herstellen,
würde ich Sie darauf hinweisen, daß Sie die Produktivität nicht vergessen dürfen
- und das ist das Problem. Schauen Sie sich doch die Wertschöpfungsanteile im
Verhältnis zu den Beschäftigungsanteilen an: Wir produzieren mittlerweile im
industriellen Bereich mit einem enormen Produktivitätszuwachs. Das war auch
bisher die Voraussetzung der Veranstaltung dieser Ökonomie: Aber meine These
ist, aufgrund eben dieses enormen Produktivitätswachstums werden wir keine
solchen Wirtschaftswachstumsraten, die Vollbeschäftigung hervorbringen,
erzielen. Im Grunde genommen ist es das Problem des 'jobless growth'. Und da
frage ich mich jetzt: Müssen wir nicht ernsthaft darüber reden, ob der
Gesellschaft in den klassischen, privatwirtschaftlichen, industriellen Bereichen
nicht die Arbeit ausgeht? Oder brauchen wir nicht mehr so viel Arbeit? Wenn ja,
wie müssen wir darauf antworten? Ich gebe Ihnen die Vorlage: Die wichtigste
strategische Antwort - und zwar nicht im Sinne einer defensiven Rückzugspolitik,
sondern aktiv nach vorne gerichtet - heißt Arbeitszeitverkürzung. Übrigens wäre
die Wirtschaftswissenschaft, die diese Arbeitszeitverkürzung immer mit sehr
abstrakten Argumenten ablehnt, gut beraten, sich einmal die industrielle
Realität anzusehen. In diesem Fall haben die Unternehmer längst das begriffen,
was die Wirtschaftswissenschaft in dem berühmten 'time-lag' von zwanzig Jahren
noch nicht mitbekommen hat.
Wenn wir bisher so viel ausgeschüttet haben, bedeutet das natürlich auch, daß
wir dann entsprechend bei der Investitionstätigkeit zurückgefallen sind, ganz
abgesehen davon, daß wir ja ein Land sind, das zunächst einmal über jede
Investitionstätigkeit Bücher führt, Anträge stellt und Betroffenheitsanalysen
macht, ob es uns - etwa in der Genpolitik - zukömmlich ist, hier weiterzumachen.
Das ist ein weiteres Problem, weswegen Arbeitsplätze in die USA abwandern. Zur
Arbeitszeitverkürzung dann in der nächsten Runde.
Herta Däubler-Gmelin:
Es
geht in den kommenden anderthalb bis zwei Stunden um die Frage: Wie sichern wir
Arbeit, Wirtschaft und Umwelt für den Standort Deutschland? Anlaß zu diesen
Fragen und zu dem Versuch, Antworten zu finden, gibt es wahrlich genug.
Mittlerweile findet man ja Katastrophenmeldungen über wirtschaftliche
Zusammenbrüche und Probleme keineswegs mehr nur auf den Wirtschaftsseiten der
Zeitungen. Alleine auf den Frontseiten der vergangenen Tage konnten sie
Nachrichten wie die folgenden lesen:
Rudolf Hickel:
Ich
bin sehr froh, daß wir die Möglichkeit haben, über ökonomische Standortprobleme
im neuen Deutschland zu diskutieren. Wenn wir von den ewigen Gesundbetern, die
es in der Wirtschaftspolitik - vielleicht auch manchmal in der
Wirtschaftswissenschaft - gibt, die immer behaupten, die Märkte werden es schon
richten -, wenn wir von denen absehen, ist Ihnen allen bewußt, daß sich dieses
neue Deutschland sozial und ökonomisch in einer ganz fundamentalen tiefen Krise
befindet, mit der sich jetzt endgültig die Frage beantwortet, wohin die
Entwicklung geht.
Joachim Starbatty:
Mit
Ihrer letzten Bemerkung, die Wirtschaftswissenschaftler wären Lichtjahre von der
Wirklichkeit entfernt, haben Sie etwas übertrieben, glaube ich. Ich will zwei
Bemerkungen zu Herrn Hickels Äußerungen machen. Er sprach von der gnadenlosen
Naivität, mit der wir die Wiedervereinigung wirtschaftlich und gesellschaftlich
betrieben haben. Da kann man durchaus zustimmen, ich würde nur die Naivität bei
anderen Leuten sehen. Er hat auch gesagt, man könnte jetzt die Lehrbücher zur
sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland fünf Jahre lang vergessen. Ich kann
nur sagen: Weil man für einige Glücksmomente diese Lehrbücher in die Ecke gelegt
hat, werden wir zwanzig Jahre daran tragen, denn die Schwierigkeiten, die wir
jetzt haben, sind darauf zurückzuführen, daß man die Grundwahrheiten der
Nationalökonomie sträflich vernachlässigt hat. Wenn Herr Biedenkopf, den ich
sonst sehr schätze, anläßlich der Wiedervereinigung gesagt hat, wir hätten jetzt
eine revolutionäre Situation, bei der wir auf die normalen Lösungen nicht setzen
können, dann kann ich nur sagen: Jetzt haben wir die Konsequenzen dieser
Revolution, die glaubte, von der ökonomischen Realität Abstand nehmen zu können.
Rudolf Hickel:
Drei
Anmerkungen, die leider nur holzschnittartig sein können. Erstens ist der Grund,
warum ich die sozialen Marktwirtschaftsbücher in Ostdeutschland für völlig
sinnlos halte, daß wir es damit zu tun haben, ein Wirtschaftssystem aufzubauen,
das unter härtester westdeutscher Konkurrenz steht und ohne einen Schutz auf
Zeit - einen Sanierungsschutz - keine Überlebenschance hat. Ich bin stolz, daß
ich bei zwei Unternehmen, die die Treuhand als 'nicht-privatisierbar' schließen
wollte (nach dem Motto: privatisierbar ist das, was verkaufbar ist), dazu
beigetragen habe, daß diese zwei Unternehmen gegen diese Strategie gerettet
wurden.
Joachim Starbatty:
Ich
gehe auf die Punkte ein, auch genau in der Reihenfolge, wie sie Herr Hickel hier
präsentiert hat. Schauen wir auf die Form der Transformation, die wir gewählt
haben: Aufwertung der Mark-Ost um 400 Prozent innerhalb von drei Jahren.
Aufholen eines Lohnniveaus vom Stand eines Entwicklungslandes - wenn Sie sehen,
was damit in der früheren DDR gekauft werden konnte - auf US-Niveau. Das hat es
in der Geschichte noch nie gegeben. Daß da Kapitalien abgeschrieben werden
mußten, die sonst hätten überleben können, ist ja völlig klar. Ich habe aber
einen Verdacht. Man hätte ja einiges anders machen können. Man hätte
beispielsweise die Lohnpolitik koppeln können in ausbezahlten Lohn und
einbehaltenen Lohn in Form von Vermögensbildung, nach dem Motto: Der Betrieb
arbeitet noch nicht so gut, wir nehmen einen geringeren Lohn, dafür kriegst du
später Anteile. Ich glaube aber, daran hatten weder die Arbeitgeberverbände noch
die Gewerkschaften ein Interesse, denn mündige Bürger, die selber entscheiden
können, was sie verdienen wollen, kann man nicht brauchen, weil sie dann keine
Mitglieder mehr sind.
Rudolf Hickel:
Der
letzte Vorwurf trifft mich natürlich sehr hart. Wir werden das hier nicht machen
können, aber ich schlage vor, daß wir mal an eine Tafel gehen, dann zeige ich
mal, warum Sie die Arbeitsmärkte falsch erklären: Sie glauben, daß das
Arbeitskraftangebot vergleichbar ist mit dem Angebot von Bananen. Ich zeige
ihnen gerne einmal, was Abhängigkeit am Arbeitsmarkt heißt.
Joachim Starbatty:
Also
zunächst zur Frage, ob der Arbeitsmarkt ein Markt ist oder nicht. Sie haben
gesagt, es wäre kein Markt wie solche für Hula-Hoop usw., aber was Sie dann
angeführt haben, waren Betroffenheitskriterien. Natürlich sehe ich ein, daß der
Verlust eines Arbeitsplatzes etwas anderes ist als der Verlust beim Absatz von
Hula-Hoop. Gleichwohl gilt auch hier natürlich das kleine ökonomische
Einmaleins: Der Betrieb, der aufgrund von verschiedenen Kostenfaktoren -
worunter der Lohnkostenfaktor ein ganz entscheidender ist - nicht mehr in der
Lage ist, die Arbeitsplätze zu finanzieren, muß zumachen. Auch wenn Sie die
Betroffenheit noch so ausmalen, es ist völlig klar, daß Lohnströme,
Investitionstätigkeit und Gewinne etwas miteinander zu tun haben und daß
aufgrund unserer Kartellpolitik eine Politik für die Insassen betrieben wird und
nicht für diejenigen, die draußen sind. Und jede Kartellpolitik führt dazu, daß
der Lohnsatz, den man wählt, gegenüber dem Gleichgewichtssatz zu hoch ist und
daß man dann anfangen muß, Arbeit über Arbeitszeitverkürzung längs oder quer zu
verkürzen, um das geringere Arbeitsangebot, das bei zu hohem Lohn nachgefragt
wird, zuzuteilen. In dieser Situation befinden wir uns heute. Und da nützt es
nichts, zu sagen, Arbeit sei etwas anderes. Das sind Betroffenheitskriterien,
und wir haben in Güterströmen zu diskutieren, und jeder Lohn produziert einen
Güterstrom, und dieser Güterstrom produziert andere Güterströme.
Zur Verringerung der Ladezeiten wurde der
Text auf zwei Dateien aufgeteilt.
Sie sind jetzt gerade am Ende des
ersten Teils angelangt.
Zum Anfang des zweiten
Teils
Zum Anfang des
dritten Teils
AK Solidarität
Jetzt!
Fritz-Erler-Akademie
SPD-Ortsverein
Tübingen
Letzte Änderung: 05.01.2002