AK Solidarität Jetzt!   Fritz-Erler-Akademie   SPD-Ortsverein Tübingen

Tübinger Forum

Standort Deutschland -
Wie sichern wir Arbeit, Wirtschaft und Umwelt?

Ein Streitgespräch
Prof. Dr. Rudolf Hickel
(Prof. für Wirtschaftswissenschaften,
Universität Bremen)
       Prof. Dr. Joachim Starbatty
(Prof. für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftspolitik,
Universität Tübingen)

Moderiert von Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin
MdB, Stellv. Vorsitzende der SPD

Die Veranstaltung fand am 12. Januar 1994 in der Universität Tübingen statt.

Vorwort des Arbeitskreises Solidarität Jetzt!        Vorwort der Fritz-Erler-Akademie Freudenstadt

Herta Däubler-Gmelin:

Es geht in den kommenden anderthalb bis zwei Stunden um die Frage: Wie sichern wir Arbeit, Wirtschaft und Umwelt für den Standort Deutschland? Anlaß zu diesen Fragen und zu dem Versuch, Antworten zu finden, gibt es wahrlich genug. Mittlerweile findet man ja Katastrophenmeldungen über wirtschaftliche Zusammenbrüche und Probleme keineswegs mehr nur auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen. Alleine auf den Frontseiten der vergangenen Tage konnten sie Nachrichten wie die folgenden lesen:

Eine renommierte Unternehmensberatungsfirma rechnet 1995 mit Arbeitslosenzahlen zwischen acht und zehn Millionen Menschen. Natürlich werden da Entlassene, die in ABM-Maßnahmen und Kurzarbeit Befindlichen und die stille Reserve, d.h. hauptsächlich die Frauen, die gerne erwerbstätig wären, sich aber entmutigt von Arbeitsmarkt zurückziehen, zusammengefaßt.

Sie können weiterhin lesen, daß junge Leute, die von den Universitäten kommen, weder beim Staat noch in der Wirtschaft eine Chance haben. Sie können lesen, daß die großen Firmen bewährte 'mittelalterliche' Manager entlassen. Sie können lesen, daß heutzutage für Abfindungen von Managern und Sozialpläne für Angestellte und Arbeiter mehr Geld ausgegeben wird als für die Entwicklung neuer Produkte. Sie können lesen, daß gerade unsere Automobilbranche erheblich ins Schwimmen kommt. Sie können lesen, daß es verzweifelte Rettungsversuche für die Metallgesellschaft gibt, daß im Osten Deutschlands von einer Industriebrache geredet wird. Und, und, und...

Alles dieses können Sie genauso lesen, wie wir alle. Anlaß zu fragen. Aber sie können noch mehr lesen, nämlich eine Unmenge von Vorschlägen, von Kritik, von Zustandsbeschreibungen, von Forderungen an den Staat oder an Verbände. Vor allem lesen Sie ganz unterschiedliche Forderungen und Zustandsbeschreibungen. Unsere beiden Diskutanten heute abend, Prof. Hickel und Prof. Starbatty, haben sich sowohl an Zustandsbeschreibungen als auch an der Analyse, vor allen Dingen aber auch an der Formulierung von pointierten Forderungen beteiligt.

Rudolf Hickel:

Ich bin sehr froh, daß wir die Möglichkeit haben, über ökonomische Standortprobleme im neuen Deutschland zu diskutieren. Wenn wir von den ewigen Gesundbetern, die es in der Wirtschaftspolitik - vielleicht auch manchmal in der Wirtschaftswissenschaft - gibt, die immer behaupten, die Märkte werden es schon richten -, wenn wir von denen absehen, ist Ihnen allen bewußt, daß sich dieses neue Deutschland sozial und ökonomisch in einer ganz fundamentalen tiefen Krise befindet, mit der sich jetzt endgültig die Frage beantwortet, wohin die Entwicklung geht.

Ein erster Punkt, den ich ganz kurz ansprechen will: Wir haben mit der deutschen Einigung - durch die Art auch des Managements der Einigung - mit dem Blitzstart der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland per Schock eine katastrophale Entwicklung ausgelöst. Wenn gestern das statistische Bundesamt mitteilt, daß das Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland um 6,3 Prozent gestiegen sei, dann dürfen Sie sich nicht nach dem Motto irritieren lassen: Jetzt ist er da, der vielbeschworene, um alle Ecken immer lugende Aufschwung. Es handelt sich um eine tiefgreifende Transformationskrise, die noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Und bedauerlicherweise muß man sagen, daß die gnadenlose Naivität, mit der die Wirtschafts- und Finanzpolitik diesen Prozeß der deutschen Einigung zu steuern versucht hat, dazu geführt hat, daß die Transformationsprobleme, vor allem der Zusammenbruch der Industrie, viel weiter vorangeschritten sind, als nötig war. Ich spreche hier aus Erfahrung und ich wiederhole einen Satz, vielleicht an dieser Stelle provokant: Herr Starbatty und ich haben vor einem handverlesenen Publikum vor einigen Monaten in Leipzig über die Frage diskutiert: Wie geht es ökonomisch weiter? Und eine meiner tiefsten und aufrichtigsten Empfehlungen an alle, die sich an diesem Aufbau beteiligen, war: Vergessen Sie bitte fünf Jahre lang alle Lehrbücher zur sozialen Marktwirtschaft, weil Sie sonst Gefahr laufen, schwerwiegende Fehler zu machen. Wir haben es mit einer Situation zu tun, die - vielleicht auch erfreulicherweise - nicht im Lehrbuch vorkommt. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß dieser Produktionsstandort stabilisiert wird. Das wird aber noch sehr lange dauern. Ich kann später noch auf Details eingehen.

Vor allem aber hat sich die Lage in dem neuen Deutschland verändert, weil Westdeutschland nach dem kurzfristigen Einigungsboom seit Mitte 1992 in eine tiefe konjunkturelle Krise geraten ist, die Rückwirkungen auf Ostdeutschland hat. Ich selbst war in Sachsen als Schlichter der Metallindustrie tätig und mache mich anheischig zu behaupten, daß ich die Situation gut kenne.

In Westdeutschland vollzieht sich eine tiefgreifende Rezession. In dieser Rezession werden strukturelle Probleme deutlich. So steht z.B. die Prosperität Baden-Württembergs etwa im Bereich der Maschinen- und Elektronikindustrie auf der Kippe. Wir müssen uns dringend diesen Herausforderungen stellen.

Erstens: Wir müssen damit aufhören, wenn wir nach den Ursachen der Krise suchen, diese dort zu suchen, wo sie nicht erzeugt worden sind, nämlich in der Lohnpolitik.

Zweitens: Wir müssen endlich damit aufhören, die Opfer der Krise, die Arbeitslosen, schnurstracks zu den Tätern zu erklären und deshalb eine Politik des radikalen Sozialabbaus durchzusetzen.

Drittens: Die Geldpolitik. Die Bundesbankpolitik, die sozusagen im Spannungsfeld des monetären Managements der deutschen Einigung einerseits und der europäischen Integration andererseits gestanden hat, hat sich mit einer falsch erklärten Inflationsentwicklung, auf das nationalistische Ziel der binnenwirtschaftlichen Konsolidierung konzentriert. Sie hat mit ihrer Hochzinspolitik drei schwerwiegende Fehler begangen: Erstens hat sie mit dazu beigetragen, daß es zur wirtschaftlichen Rezession kam. Genau in der Phase des Abschwungs hat die Bundesbank ihre Politik verschärft. Zweitens hat sie den Aufbau in Ostdeutschland durch eine Zinsverteuerung unnötig erschwert und drittens hat ihre Politik schließlich auch zur Krise des Europäischen Währungssystems geführt.

Viertens: Ich glaube, und ich sage dies sehr bewußt, daß die Finanzpolitik, die zur Zeit gefahren wird - die sozusagen eine Strategie des 'muddling through' ist, des Durchwurstelns mit allen Konsequenzen - immer mehr dazu neigt, dem Muster der Weimarer Republik gegen Ende der Weimarer Republik zu folgen. Etwas langsamer in der Durchsetzung befinden auch wir uns in einem Prozeß, in dem die Politik selbst die wirtschaftlichen Entwicklungsbedingungen verschlechtert.

Als letztes: Wir reden ständig über die, die von der Krise betroffen sind, als diejenigen, die die Krise verursachen. Wir müssen endlich auch über eine Industriepolitik reden, wo die im Rampenlicht stehen, die wirklich die Entscheidungen treffen, die Unternehmer, das Management. Das Beispiel des Versagens des Managements übrigens eines promovierten Absolventen dieser Universität - des Herrn Dr. Schimmelbusch - zeigt, daß wir dringend auch einmal darüber reden müssen, inwieweit die, die Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung haben, ihren Anforderungen gerecht werden.

Das sind die Herausforderungen, die ich kurz versucht habe, darzustellen. Ein letzter Satz zu meiner Zunft, zu der Zunft, die auch Herr Starbatty vertritt. Nehmen Sie nur beispielhaft das jüngste Jahresgutachten des Sachverständigenrats von 1993. Lesen Sie die Diagnose, lesen Sie die Empfehlungen zu den einzelnen Politikfeldern; ich bitte Sie dringend das zu tun, weil Sie eine bittere Erfahrung machen werden: Der gesetzlich verordnete Sachverstand war seit 1963 noch nie in einer solch hilflosen Situation, wenn es galt, die Hauptherausforderung, das Geschwür dieser Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit, zu bekämpfen. Wir brauchen auch wieder Impulse durch eine attraktive, problemorientierte Wirtschaftswissenschaft, die sich nicht damit begügt, Glasperlenspiele zu wiederholen, sondern die versucht, zu Problemlösungen beizutragen. Davon ist die Mehrheit der Mitglieder meiner Zunft Kilometer, wenn Sie so wollen, Lichtjahre entfernt.

Joachim Starbatty:

Mit Ihrer letzten Bemerkung, die Wirtschaftswissenschaftler wären Lichtjahre von der Wirklichkeit entfernt, haben Sie etwas übertrieben, glaube ich. Ich will zwei Bemerkungen zu Herrn Hickels Äußerungen machen. Er sprach von der gnadenlosen Naivität, mit der wir die Wiedervereinigung wirtschaftlich und gesellschaftlich betrieben haben. Da kann man durchaus zustimmen, ich würde nur die Naivität bei anderen Leuten sehen. Er hat auch gesagt, man könnte jetzt die Lehrbücher zur sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland fünf Jahre lang vergessen. Ich kann nur sagen: Weil man für einige Glücksmomente diese Lehrbücher in die Ecke gelegt hat, werden wir zwanzig Jahre daran tragen, denn die Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, sind darauf zurückzuführen, daß man die Grundwahrheiten der Nationalökonomie sträflich vernachlässigt hat. Wenn Herr Biedenkopf, den ich sonst sehr schätze, anläßlich der Wiedervereinigung gesagt hat, wir hätten jetzt eine revolutionäre Situation, bei der wir auf die normalen Lösungen nicht setzen können, dann kann ich nur sagen: Jetzt haben wir die Konsequenzen dieser Revolution, die glaubte, von der ökonomischen Realität Abstand nehmen zu können.

Jetzt will ich - wie gutes Rednertum es vorschreibt - gute und schlechte Nachrichten einander abwechseln lassen. Ich beginne jeweils mit der guten Nachricht.

Ich sehe im Standort Deutschland keinen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft, Arbeitsplätzen und Umweltschutz. Wenn wir eine starke, also investierende Wirtschaft haben, dann werden wir auch Arbeitsplätze haben und dann werden wir auch etwas für den Umweltschutz tun können. Die schlechte Nachricht ist: In den Programmen aller Parteien ist zu sehen, daß diese Parteien glauben, Arbeit dadurch schaffen zu können, daß sie Geld umschaufeln oder die Arbeitszeit verkürzen oder andere Verteilungsexperimente versuchen. Damit aber werden wir den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen, denn wir haben in unserem Lande nur eine einzige Ressource: unsere Arbeitskraft. Sonst haben wir nichts. Wenn wir diese Arbeitskraft einfach über Umverteilung in unproduktive Verwendungen lenken oder sie künstlich einsperren, werden wir nur konkurrenzunfähiger werden und weder produktive Arbeitsplätze schaffen noch den notwendigen Umweltschutz realisieren können.

Zweite günstige Nachricht: Ein Land braucht, um Vollbeschäftigung zu sichern, Kapitalbildung, denn Kapitalbildung ist die Grundlage jedes Arbeitsplatzes. Nur wenn investiert wird und wenn Arbeitsplätze geschaffen werden, können Arbeitslose wieder von der Straße geholt werden. Und wir sind eines der kapitalreichsten Länder auf dieser Welt. Aber was tun wir? Zur Zeit reicht die Nettokapitalbildung Deutschlands gerade aus, um die Verschuldung aller Haushalte zu finanzieren und das bedeutet, daß wir Ressourcen aus dem produktiven Bereich aufsaugen und in den unproduktiven Bereich - den Sozialkonsum - hineinlenken. Das wird dazu führen, daß wir immer weniger produktive Arbeitsplätze haben werden aufgrund der Tatsache, daß der Staat eben die Mittel absorbiert, die für die Investitiontätigkeit erforderlich wären.

Dritte Meldung: Man kann sagen, im OECD-Bereich gehören wir in Punkto Arbeitslosigkeit noch zu den Schlußlichtern, was die Ziffern angeht. Man könnte noch weiter sagen: Es gibt Inseln, auf denen es keine Arbeitslosigkeit gibt. Wenn beispielsweise in den neuen Bundesländern Bauarbeiter aus der Türkei und England eingeflogen werden müssen, könnte man sagen, es gibt keine generelle Arbeitslosigkeit. Aber für unsere Verhältnisse haben wir eine sehr, sehr hohe Arbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit ist ein sehr ernstes Problem, das man nicht klein reden kann, weil derjenige, der Arbeit verliert, nicht nur einen Teil seines Einkommens, sondern auch einen Teil seines Seins verliert, denn der Mensch realisiert sich eben auch durch Arbeit. Wir haben bald - womöglich noch in diesem Jahr - vier Millionen Arbeitslose. (Ich will nicht an die Horrorszenarios denken, die Herr Berger aufgesetzt hat. Man kann nicht die Konjunkturentwicklung der nächsten drei Jahre bestimmen. Das ist nur Sensationsmache, das ist einfach nicht seriös.)

Wenn wir vier Millionen Arbeitslose haben, dann hängt das natürlich auch mit den Akteuren zusammen. Wir haben einen Arbeitsmarkt, auf dem Leistungen getauscht werden: Da wird Lohn gezahlt und dagegen wird eine Arbeitsleistung eingetauscht und diese Arbeitleistung können sie z.B. in Geldeinheiten oder in Sacheinheiten ausdrücken, d.h. der Arbeitsmarkt ist ein Tausch von Leistungsströmen. Und wenn wir vier Millionen Arbeitslose haben, dann kann ich nur sagen: Offensichtlich passen hier die Leistungsströme nicht mehr zusammen. Das ist die Grundidee. Da bin ich eben ganz anderer Auffassung als Herr Hickel. Ich bin der Auffassung, daß es einen Markt gibt und daß auf diesem Markt die Preise - also die Löhne - bestimmen, und wenn diese Löhne falsch gesetzt sind, gibt es natürlich Arbeitslosigkeit. Wir haben eine Situation, in der auf dem Arbeitsmarkt Schwankungen von Angebot und Nachfrage nicht mehr über die Preise austariert werden, sondern über die Mengen. Das bedeutet, daß diejenigen, die sichere Arbeitsplätze haben, weiter diese sicheren Arbeitsplätze haben werden und andere, die auf unsicheren Arbeitsplätzen sitzen, diese verlieren werden. Das ist unsere Lohnpolitik zur Zeit und sie ist das Ergebnis der Akteurskonstellation, die wir haben. Wir haben auf diesem Arbeitsmarkt eine Marktform, die wir Kartell nennen können, denn es sind nur zwei Arbeitsmarktparteien da: Auf der einen Seite die Gewerkschaften, auf der anderen Seite die Arbeitgeberverbände. Jedes Kartell neigt dazu, den Preis über dem Gleichgewichtspreis anzusetzen und die Konsequenz ist dann normalerweise, daß die Nachfrage nach bestimmten Gütern, also die Nachfrage nach Arbeitskräften zu gering ist und daß man anfängt - und genau das will Herr Hickel uns vorschlagen - die Arbeit umzuverteilen. Das ist die Konsequenz einer falsch gepolten Lohnpolitik.

Ein anderes Problem ist das Sozialsystem. Das Sozialsystem ist von gestern, es ist zu teuer und es diskriminiert einzelne Gruppen unserer Gesellschaft.

Es ist deswegen von gestern, weil es in einer Zeit der Hochkonjunktur geschaffen worden ist. Damals ging es nicht darum, wie man Arbeitsplätze schafft, sondern wie man diejenigen, die auf Arbeitplätzen sitzen, schützen kann. Jetzt kommt es darauf an, ein Sozialsystem zu errichten, das günstig ist für die Leute, die Arbeitsplätze suchen. Deswegen ist unser System von gestern. Ich will später gerne den Beweis dazu antreten.

Unser System ist außerdem zu teuer. Wir haben uns das System früher leisten können, weil es sozialen Frieden brachte und wir keine Streiks hatten. Das Ausland hat inzwischen gelernt, daß Streiks im eigenen Lande nicht die Löhne erhöhen, sondern nur die Auftragsbücher deutscher Gesellschaften. In Frankreich wird nicht mehr - oder kaum noch - gestreikt und in England wird überhaupt nicht mehr gestreikt. Früher war das unsere größte Exportstütze. Aber die Engländer produzieren jetzt das 'Gut' sozialer Friede billiger als wir, und wir hängen auf den Kosten fest.

Unser System diskriminiert. Es diskriminiert diejenigen, die keine Arbeit haben und Arbeit suchen, weil die Einstellungsbarrieren für Arbeiter aufgrund der sozialen Verpflichtungen gestiegen sind. Es begünstigt diejenigen, die schon etwas haben, und es diskriminiert diejenigen, die ausgegrenzt worden sind. Schauen Sie sich an, was an den Bahnhöfen los ist. Das hat es vor zwanzig Jahren nicht gegeben. Warum hat es das nicht gegeben? Warum gibt es das heute? Warum werden immer mehr Menschen bei uns ausgegrenzt? Nicht weil wir zuwenig für soziale Leistungen ausgeben würden, ein Drittel unseres Sozialprodukts wird für Sozialleistungen ausgegeben. Warum also? Wir geben das Geld falsch aus, und das müssen wir ändern.

Rudolf Hickel:

Drei Anmerkungen, die leider nur holzschnittartig sein können. Erstens ist der Grund, warum ich die sozialen Marktwirtschaftsbücher in Ostdeutschland für völlig sinnlos halte, daß wir es damit zu tun haben, ein Wirtschaftssystem aufzubauen, das unter härtester westdeutscher Konkurrenz steht und ohne einen Schutz auf Zeit - einen Sanierungsschutz - keine Überlebenschance hat. Ich bin stolz, daß ich bei zwei Unternehmen, die die Treuhand als 'nicht-privatisierbar' schließen wollte (nach dem Motto: privatisierbar ist das, was verkaufbar ist), dazu beigetragen habe, daß diese zwei Unternehmen gegen diese Strategie gerettet wurden.

Zweitens hat Herr Starbatty einen klassischen Satz der Nationalökonomie formuliert, der historisch völlig überholt ist. Sie werden mit der noch so aggressivsten und umweltbelastensten Politik einer privatwirtschaftlichen Kapitalbildung über das Jahrtausend hinweg keine Vollbeschäftigung mehr herstellen. Deshalb müssen sie über alternative Formen der Arbeit und der Produktion nachdenken. Es hat keinen Sinn, angesichts der Erfahrungen, angesichts des ständigen Wachsens des Sockels der Arbeitslosigkeit wie die Papageien nach Samuelson den Grundsatz zu wiederholen: Vollbeschäftigung - Kapitalbildung: Es funktioniert alles.

Drittens bin ich Ihnen wirklich dankbar, daß sie das Verursachungszentrum Ihrer Sicht der Arbeitslosigkeit mit der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie begründet haben. Ich sage aber ganz deutlich - und das ist eine wichtige Aussage für die weitere Politik: Der Arbeitsmarkt ist kein Markt an dem Teppiche, Bahnkarten oder irgendwelche Hula-Hoop-Reifen gehandelt werden. Da werden Arbeitskräfte gehandelt, deren Lohnbildung zugleich Existenzsicherung ist, und es besteht keine Gleichrangigkeit der Verhältnisse zwischen Arbeitsanbieter und -nachfrager sondern Abhängigkeit. Ich kenne keinen Beschäfigten, der Arbeitsplatzbesitzer ist, sondern er befindet sich in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis und die übelste zugespitze Form der Abhängigkeit ist die Tragik der Arbeitslosigkeit. Die Ursache der Arbeitslosigkeit auf den Arbeitsmärkten zu erklären, lenkt davon ab, daß wir wirklich auf die Güter- und Investitionsmärkte schauen müssen: Dort wird die Arbeitslosigkeit produziert.

Joachim Starbatty:

Ich gehe auf die Punkte ein, auch genau in der Reihenfolge, wie sie Herr Hickel hier präsentiert hat. Schauen wir auf die Form der Transformation, die wir gewählt haben: Aufwertung der Mark-Ost um 400 Prozent innerhalb von drei Jahren. Aufholen eines Lohnniveaus vom Stand eines Entwicklungslandes - wenn Sie sehen, was damit in der früheren DDR gekauft werden konnte - auf US-Niveau. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Daß da Kapitalien abgeschrieben werden mußten, die sonst hätten überleben können, ist ja völlig klar. Ich habe aber einen Verdacht. Man hätte ja einiges anders machen können. Man hätte beispielsweise die Lohnpolitik koppeln können in ausbezahlten Lohn und einbehaltenen Lohn in Form von Vermögensbildung, nach dem Motto: Der Betrieb arbeitet noch nicht so gut, wir nehmen einen geringeren Lohn, dafür kriegst du später Anteile. Ich glaube aber, daran hatten weder die Arbeitgeberverbände noch die Gewerkschaften ein Interesse, denn mündige Bürger, die selber entscheiden können, was sie verdienen wollen, kann man nicht brauchen, weil sie dann keine Mitglieder mehr sind.

Dann zur 'aggressiven Politik der Kapitalverwendung'. Sie haben da gesagt, es wäre eine Spruch von Samuelson. Nun, wenn es ein Spruch von Samuelson war, dann ist er doch nicht falsch. Es ist doch völlig klar, daß jeder Arbeitsplatz zunächst Kapitalbildung voraussetzt. Ohne Investitionstätigkeit gibt es keine Arbeitsplätze. Sie können das sozialistisch begründen oder marktwirtschaftlich, das spielt gar keine Rolle. Das Entscheidende ist nun, wie rentabel die Arbeitsplätze sind - und das hängt von den Zinsen ab und von den Kosten, die anfallen. Und wenn Sie die relativen Preise auf den Märkten so setzen, daß es für Unternehmer nicht mehr rentabel ist zu produzieren, weil Sie die Arbeitsplätze nicht mehr finanzieren können, dann kriegen Sie Arbeitslosigkeit. Was Sie zum Schluß zur Arbeitslosigkeit gesagt haben, hat sich zwar nett angehört, aber es war ja kein theoretischer Satz dabei, der eine Begründung gegeben hätte.

Rudolf Hickel:

Der letzte Vorwurf trifft mich natürlich sehr hart. Wir werden das hier nicht machen können, aber ich schlage vor, daß wir mal an eine Tafel gehen, dann zeige ich mal, warum Sie die Arbeitsmärkte falsch erklären: Sie glauben, daß das Arbeitskraftangebot vergleichbar ist mit dem Angebot von Bananen. Ich zeige ihnen gerne einmal, was Abhängigkeit am Arbeitsmarkt heißt.

Das zweite, was ganz wichtig ist: Eines sollten wir als Regel der Diskussion aufstellen: Wenn Ihnen an mir etwas nicht paßt, dann versuchen Sie nicht, mich suggestiv als Vertreter eines verrotteten Dinosaurier-Sozialismus abzuqualifizieren. Ich werde Sie dann auch nicht als einen extremen, ultra-kapitalistischen Cheftheoretiker bezeichnen. Vielleicht machen wir das zur Grundlage.

Das Entscheidende ist, daß wir wirklich einmal darüber reden müssen, wie wir mit der Herausforderung fertig werden, daß die Bundesrepublik Deutschland die bisherige Voraussetzung ihrer Verteilungspolitik zu verlieren droht. Die Bundesrepublik Deutschland konnte bisher ein Hochlohnland sein, weil sie über enorme Produktivitätszuwächse verfügt hat. Da scheint es jetzt Probleme zu geben, aber diese Probleme kann man nicht schuldhaft der Lohnpolitik und den Gewerkschaften zuweisen, sondern da muß man sich fragen, was eigentlich der prosperierende, schwäbische, mittelständische und Groß-Unternehmer im Maschinenbau in den letzten Jahren getan hat? Er ist z.T. im Produktzyklus auf dem oberen Punkt sitzengeblieben und wurde - im Schumpeterschen Sinne - vom dynamischen Wirt zum statischen Wirt, und jetzt haben wir eine Krise, die nun diejenigen ausbaden sollen, die von der Krise betroffen sind, nämlich die Beschäftigten.

Letzte Bemerkung: Eines haben Sie bei Ihrer These vergessen. Wenn Sie zwischen Vollbeschäftigung und Kapitalbildung ein direktes Glied herstellen, würde ich Sie darauf hinweisen, daß Sie die Produktivität nicht vergessen dürfen - und das ist das Problem. Schauen Sie sich doch die Wertschöpfungsanteile im Verhältnis zu den Beschäftigungsanteilen an: Wir produzieren mittlerweile im industriellen Bereich mit einem enormen Produktivitätszuwachs. Das war auch bisher die Voraussetzung der Veranstaltung dieser Ökonomie: Aber meine These ist, aufgrund eben dieses enormen Produktivitätswachstums werden wir keine solchen Wirtschaftswachstumsraten, die Vollbeschäftigung hervorbringen, erzielen. Im Grunde genommen ist es das Problem des 'jobless growth'. Und da frage ich mich jetzt: Müssen wir nicht ernsthaft darüber reden, ob der Gesellschaft in den klassischen, privatwirtschaftlichen, industriellen Bereichen nicht die Arbeit ausgeht? Oder brauchen wir nicht mehr so viel Arbeit? Wenn ja, wie müssen wir darauf antworten? Ich gebe Ihnen die Vorlage: Die wichtigste strategische Antwort - und zwar nicht im Sinne einer defensiven Rückzugspolitik, sondern aktiv nach vorne gerichtet - heißt Arbeitszeitverkürzung. Übrigens wäre die Wirtschaftswissenschaft, die diese Arbeitszeitverkürzung immer mit sehr abstrakten Argumenten ablehnt, gut beraten, sich einmal die industrielle Realität anzusehen. In diesem Fall haben die Unternehmer längst das begriffen, was die Wirtschaftswissenschaft in dem berühmten 'time-lag' von zwanzig Jahren noch nicht mitbekommen hat.

Joachim Starbatty:

Also zunächst zur Frage, ob der Arbeitsmarkt ein Markt ist oder nicht. Sie haben gesagt, es wäre kein Markt wie solche für Hula-Hoop usw., aber was Sie dann angeführt haben, waren Betroffenheitskriterien. Natürlich sehe ich ein, daß der Verlust eines Arbeitsplatzes etwas anderes ist als der Verlust beim Absatz von Hula-Hoop. Gleichwohl gilt auch hier natürlich das kleine ökonomische Einmaleins: Der Betrieb, der aufgrund von verschiedenen Kostenfaktoren - worunter der Lohnkostenfaktor ein ganz entscheidender ist - nicht mehr in der Lage ist, die Arbeitsplätze zu finanzieren, muß zumachen. Auch wenn Sie die Betroffenheit noch so ausmalen, es ist völlig klar, daß Lohnströme, Investitionstätigkeit und Gewinne etwas miteinander zu tun haben und daß aufgrund unserer Kartellpolitik eine Politik für die Insassen betrieben wird und nicht für diejenigen, die draußen sind. Und jede Kartellpolitik führt dazu, daß der Lohnsatz, den man wählt, gegenüber dem Gleichgewichtssatz zu hoch ist und daß man dann anfangen muß, Arbeit über Arbeitszeitverkürzung längs oder quer zu verkürzen, um das geringere Arbeitsangebot, das bei zu hohem Lohn nachgefragt wird, zuzuteilen. In dieser Situation befinden wir uns heute. Und da nützt es nichts, zu sagen, Arbeit sei etwas anderes. Das sind Betroffenheitskriterien, und wir haben in Güterströmen zu diskutieren, und jeder Lohn produziert einen Güterstrom, und dieser Güterstrom produziert andere Güterströme.

Wenn wir bisher so viel ausgeschüttet haben, bedeutet das natürlich auch, daß wir dann entsprechend bei der Investitionstätigkeit zurückgefallen sind, ganz abgesehen davon, daß wir ja ein Land sind, das zunächst einmal über jede Investitionstätigkeit Bücher führt, Anträge stellt und Betroffenheitsanalysen macht, ob es uns - etwa in der Genpolitik - zukömmlich ist, hier weiterzumachen. Das ist ein weiteres Problem, weswegen Arbeitsplätze in die USA abwandern. Zur Arbeitszeitverkürzung dann in der nächsten Runde.

Fortsetzung ...


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Letzte Änderung: 05.01.2002